Kurzgeschichten

Freitag, 18. Juni 2010

Hase macht Männchen

Seit ich im Internet auf diese Seite gestoßen war, ließ mich der Gedanke nicht mehr los, die Ostertage im Elsass zu verbringen. Obwohl ich dieser Butzenscheiben- und Fachwerkromantik vorher nie ganz traute. Die Gegend erinnerte mich an einen Urlaub mit den Eltern im Schwarzwald. Damals machten wir einen Tagesausflug nach Straßburg und mein Vater versuchte mir an Hand der Straßennamen und des Sauerkrauts zu beweisen, wie unfranzösisch die Stadt doch war.

Aber seit ich diese Website gesehen hatte, bekam das Elsass einen ganz neuen Anziehungspunkt für mich, einen sehr französischen und der hieß Zum goldenen Hecht, gelegen im Städtchen Barr oder genauer Jean-Pierre, so der Name des Wirts. Der einzige Jean-Pierre, den ich jemals gekannt hatte, war Austauschschüler gewesen, als ich die zwölfte Klasse besuchte. Im Gegenzug sollte ich nach Frankreich kommen, aber daraus wurde nichts, weil ich bereits einen Ausbildungsplatz als Industriekauffrau hatte. Und meine Eltern waren heilfroh darüber. Denn zwischen Jean-Pierre und mir hatte sich etwas angebahnt. Ein Gefühl, das ich zwar kannte, das bisher aber keine derart heftige Erwiderung gefunden hatte. Nach diesen drei Wochen angefüllt mit Chérie hier und Petit Bijou dort, konnte ich die Nüchternheit einer Bürotätigkeit mitten in der Frankfurter Innenstadt, dort wo sie am hässlichsten war, kaum ertragen. Ich redete mir ein, dass das wohl dieser Ernst des Lebens sein musste, von dem meine Eltern immer gesprochen hatten. Heute denke ich oft, dass ich damals den falschen Weg genommen habe, den vorgezeichneten, aber auch den sicheren, scheinbar bequemeren.

Wir schrieben uns. Ich versprach nach Paris zu kommen, wo er inzwischen die Hotelfachschule besuchte. Und obwohl ich bald schon mit Manfred, meinem späteren Mann, zusammen war, fuhr ich hin. Dann wurden die Abstände zwischen unseren Treffen länger und irgendwann sahen wir uns nicht mehr und irgendwann schrieb ich nicht mehr und Jean-Pierre verblasste in mir, wie das rosa Band, das ich um seine Briefe gewickelt hatte. Weggeworfen hatte ich sie nie. Immer noch lagen sie in meiner untersten Schreibtisch¬schublade, wie ein uneingelöstes Versprechen, das beinahe in Vergessenheit geraten war.

Im Elsass war ich nie mehr gewesen. Es schien mir zu nah, zu nah an Kilometern und zu nah an mir selbst, mit diesem Geruch von Urlaub mit den Eltern, diesen Tagen, die mir von ihnen verplant worden waren, mit langen Wanderungen durch regenverhangene Tannenwälder, begleitet vom ununterbrochenen Dozieren meines Vaters und der Angst meiner Mutter vor dem Moment, wo seine Laune wegen einer Kleinigkeit umschlagen könnte. Und Frankreich war mir auch zu nah, zu nah an meiner einstigen Leidenschaft.

Das war alles lange her und die Nähe erschien mir nun als Vorteil, die Entfernung von zweieinhalb Stunden genau richtig für eine kleine Spritztour über die Osterfeiertage. Zufällig war ich bei einer Hotelrecherche für meinen Chef auf die Seite mit seinem Namen gestoßen: Hôtel-Restaurant Le Brochet, Jean-Pierre Dubois, Barr. Nach der Anfahrtsbeschreibung lag der Ort etwas unterhalb von Straßburg, an der nördlichen Weinstraße. Irgend etwas im Tonfall der deutschen Beschreibung des Hauses, dessen Name in der deutschen Übersetzung Zum goldenen Hecht scheinbar ein glänzendes Adjektiv brauchte, die leicht überschwängliche Beschreibung des Ortes, inmitten sanft geschwungener Weinberge, kleine Fehler oder einfach die unübliche Verwendung einiger Worte, machten mich sicher, dass es mein Jean-Pierre war, der hier wirkte. Und selbst, wenn er es nicht war, was konnte mir schon passieren, außer einem Wochenende mit gutem Essen und gutem Wein? Danach würde ich wieder joggen, um mir meine gute Figur zu erhalten und meine straffe Haut für den Einen, der mich endlich aus diesem Zustand befreien sollte, diesem Zustand des Alleinseins, des ohne Familieseins, des in der Welt nicht Zugehörigseins, der sich trotz meiner Anpassungsversuche nie geändert hatte.

Ich packte also am Morgen des Karfreitag meinen kleinen Koffer mit frühlingshaften Oberteilen, die ich die Woche zuvor neu erworben hatte, zusammen mit einer hauchdünnen Kombination aus BH, Hemdchen und Slip von Léjabi, unvernünftig teuer, aber französisch genug für meinen Ausflug und nahm die A 5, Richtung Basel.

Obwohl ich schon seit fünf Jahren von Manfred geschieden war, fuhr ich selten allein weg und noch seltener mit dem Auto. Meistens buchte ich einen günstigen Charterflug mit Kathrin nach Mallorca oder Teneriffa. In Frankreich war ich nur mit Jean-Pierre gewesen. Die Sprache, die Namen der Weine, der Gerichte, weckten zu viele Erinnerungen, zu viele Erinnerungen an ein nicht gelebtes Leben.

Ich fuhr über den Rhein, die Autobahnschilder wurden grün und die Häuser bekamen diesen angenehm verlotterten Ausdruck. Schnell ließ ich die lindgrünen Würfel einer Vorstadtsiedlung und futuristische Autobahnraststätten hinter mir. Diese modernen Zeitzeichen wollte ich gar nicht sehen. Meine Liebe zu Frankreich war rückwärts gewandt. Frankreich, das bedeutete Verliebtsein und Französisch den Austausch von Vertrautheiten oder gar Ungehörigkeiten, die wir uns auf Deutsch nicht zu sagen trauten und alles zusammen bedeutete Unbeschwertheit, Übernachten in einem Zimmer mit Lavabo und Hineindämmern in einen Tag, der sich später mit Croissants fortsetzte, ohne einen einzigen Gedanken an irgendeine Kalorie. Aber das war wie gesagt, lange her. Heute frühstückte ich meistens Knäckebrot mit Halbfettmargarine.

Diese Gewohnheit, die aus der Not eine Tugend machte, indem sie die Gesundheit pries, aber die Sinne vernachlässigte, wollte ich in den nächsten Tagen unterbrechen, wie auch die Gewohnheit eines leichten Abendessens und selbst, wenn ich dafür jeden Tag joggen müsste.

Das nahm ich mir regelrecht vor, als ich hinter Straßburg in die A 35 Richtung Colmar einbog, ja, selbst, wenn der Wirt im Goldenen Hecht nicht mein Jean-Pierre war, und darüber empfand ich einen kleinen Triumph, einen kleinen Triumph über die Alltäglichkeit.

Da ich die Weinstraße nicht kannte, hatte ich mir vorgenommen, in jedem kleinen Ort anzuhalten und mich so bis zum Nachmittag nach Barr vorzuarbeiten. In Molsheim stellte ich mein Auto auf einem Plätzchen vor der Kirche ab und lief Richtung Marktplatz. Aus dem offenen Fenster eines Schulgebäudes neben der Kirche empfingen mich mehrstimmig krumme Klarinettentöne, vielleicht eine Musikschule oder Messdiener, die sich auf ein Osterkonzert vorbereiteten. So was gab es in Frankreich noch. Als ich den Marktplatz mit seinen schönen Renaissancegebäuden erreichte, kam die Sonne heraus. Ein Wirt wischte die Regentropfen von den Korbstühlen seines Bistros und ich bestellte einen Petit Café Noir auf Französisch und wechselte, als er fragte, wo ich her sei, ins Deutsche, froh über diese Möglichkeit, die meinen verschütteten Vokabeln erlaubte, langsam an die Oberfläche zu kommen. Das sei die erste warme Woche, sagte er. Der Café war so stark, dass ich zwei Stück Zucker brauchte, obwohl ich sonst keinen nahm. Und meine Stimmung war französisch, wie sie französischer nicht hätte sein können. Das bedeutete immer auch eine angenehme Verlotterung meiner Disziplin, eine Verlotterung, die mich entspannte.

Weiter ging es nach Rosheim, das wegen seiner romanischen Kirche einen eigenen Eintrag in meinem Du Mont-Reiseführer hatte. Am Altar zündete ich ein Teelicht in einem altmodischen Eisengestell an und wünschte inständig, dass mein Jean-Pierre wirklich der Inhaber des Le Brochet sei.

Allerdings wollte ich den Augenblick der Wahrheit noch etwas hinauszögern, bummelte also in Obernai durch Altstadt und freute mich, dass trotz des Feiertags die Läden offen waren. Brunnen und Sautröge und alle anderen Gefäße waren mit roten und gelben Ranunkeln bepflanzt und vor den Fenstern standen große Strohhasen mit bemalten Eiern in den Pfoten. Ich weidete mich regelrecht an den Läden voll von Tongeschirr, Plüschstörchen und bunten Platzdeckchen. Am meisten jedoch faszinierten mich die Auslagen der Confiserien, mit ihren Herden von bepuderten Osterlämmern und ihren Rudeln von Osterhasen aller Größen und aller Farben von Vollmilch bis Zartbitter. Menschen standen in langen Schlangen bis auf die Straße heraus, mit der einzigen Absicht, wenig später eine kleine Schachtel mit hellgrüner Schleife herauszutragen, wie ein Schmuckkästchen für die Trophäe ihres Genusses.

Fasziniert betrachtete ich die ausgestellten Hasen, die wunderbar sorgfältig gearbeitet waren. Einer gefiel mir besonders, mit seiner dunkelschokoladigen Haut und den Pfoten weiß wie Schnee. In diesen Pfoten hielt er eine Möhre aus orangefarbenem Marzipan und in seinen Augen war ein wenig Weiß, wie bei richtigen Augen. Il fait beau stand auf seinem Schild und er wurde als jüngster Nachkomme einer vornehmen Hasenfamilie gepriesen. Einmal selbst so ein kleines Kästchen mit einem sinnlos teuren Schokoladenhasen aus dem Laden tragen, ging es mir durch den Kopf, und schon trat ich durch die Glastür ein.

Il fait beau stand nicht mehr auf dem Regal. Er schien ein sehr beliebtes Familienmitglied zu sein und ich wollte schon wieder gehen, als die freundliche Verkäuferin mir anbot, ihn aus der Vitrine zu holen. Sie ging mit mir hinaus, zeigte auf Il fait beau und fragte, ob es dieser Hase, sei, der mich interessiere, klärte mich über seine Qualitäten auf, lobte die Kakaobutter und ich dachte, mein Gott, ich will ihn nur essen. Ich schämte mich fast, über den Brimborium, den sie um einen Schokoladenhasen machte, aber wenig später trug ich ihn stolz in einem türkisfarbenen Schächtelchen am hellgrünen Band nach draußen. Nun war ich von den Französinnen kaum noch zu unterscheiden. An Aufessen war natürlich nicht zu denken. So schön, wie mein Apportier¬schokoladenhase verpackt war, konnte er nur verschenkt werden, vielleicht an Jean-Pierre, wenn er es wirklich war.

Mit Jean-Pierre hatte ich mich zum ersten Mal als Frau gefühlt und schön, obwohl ich sehr klein war, Brillenträgerin mit leichtem Überbiss, nicht der Idealfall eben und das in einem Alter, als Aussehen alles zählte. Bei Jean-Pierre fühlte ich mich nahezu unwiderstehlich, was vielleicht auch an der beschränkten Zeit lag, die uns zur Verfügung stand, drei Wochen, in denen gehandelt werden musste.

Vorher war dieser Zustand des Nichtzugehörigseins allgegenwärtig gewesen. Vielleicht kam er durch meinen Vater, der nur klassische Musik hörte und von mir das Gleiche erwartete, in einer Zeit, in der alle Schulkameraden Led Zeppelin hörten oder die Bee Gees. Vielleicht auch durch meine Mutter, die nicht aus Frankfurt kam, sondern aus einer Urlaubsgegend in Süddeutschland, und die sich vor Stolz lieber auf die Zunge biss, als die Nachbarn zu grüßen. Ich vergrößerte meine Probleme durch zehn Kilo, die ich mir drauf fraß und als Teenager mühsam wieder runterhungern musste. Ein Glück, denn heutzutage, wo jeder einer Trendsportart nachging und seinen Body-Mass-Index kannte, war es ja ganz unmöglich, dick zu sein. Mittlerweile hatte sogar ich mir das Joggen angewöhnt, dabei war ich doch während meiner Schulzeit geradezu berühmt als steifer Bock und lahme Ente. So berühmt, dass schon alle auf meine Vorführung warteten und mir nicht einmal mehr die Möglichkeit blieb, mich auf dem Klo zu verstecken. Eine lahme Ente war ich immer noch, so lahm, dass mich während des Laufens andere im normalen Schritttempo überholten, weil ihre Beine länger waren oder Hunde, Hunde überholten mich auch. Aber das war mir egal. Ich lief gern, weil ich damit meine Wut loswerden konnte. Trotzdem unterschied ich mich gewaltig von meinen langbeinigen, braungebrannten Weggenossinnen. Wenigstens rauchte ich nicht mehr. Wer rauchte oder Schweinefleisch aß, der war auch nicht zugehörig, besonders als Frau, als Mann konnte man sich mal ein Jägerschnitzel erlauben. Bei einer Frau wirkte das asozial. Zum Glück mochte ich kein Jägerschnitzel, aber manchmal kotzte mich das alles an, dieses Fanatische. Die Franzosen aßen ihre Gänsestopfleber oder ihre Croissants und dachten weder an Tierquälerei noch an Weizenmehl.

Gib Gott, dass ich den Hasen nicht alleine essen muss, dachte ich, als ich von der A35 abfuhr und in den Ort Barr hinein. Die Straße führte vorbei an hübschen Stadtpalais mit verwilderten Gärten. Durch eine enge Straße mit bunten Fachwerkhäusern ging es auf den Marktplatz zu. Der Ort war geradezu aufreizend romantisch, Gift für Alleinreisende. Links an einem großen, gelben Eckhaus mit Hofeinfahrt stand Hôtel, darunter zwei Sterne. Die Vorderseite öffnete sich zum Marktplatz hin und oben über der Terrasse mit weißen Stühlen prangte tatsächlich ein länglicher, goldener Fisch, der wohl der Hecht sein sollte. Le Brochet stand darüber, genau, wie ich es im Internet gesehen hatte. Ich stellte mich auf den Marktplatz und blinzelte durch die großen Fenster ins Innere des Hechts.

Es schien niemand da zu sein und ich suchte nach dem Eingang. Zur Straße hin war zu, die Glastür zur Terrasse ebenso, aber seitlich zum Hof entdeckte ich noch eine Tür. Sonnez stand an der Klingel mit Sprechanlage. Ich drückte auf den Knopf. Hallo? Qui est? fragt eine Stimme, eine männliche Stimme, die angenehm klang, tief, melodiös, mich aber dennoch zurückschrecken ließ. War er das oder war er das nicht? Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und antwortete: Je cherche une chambre. Pour quelque nuits. Und schon sprach die angenehme Stimme wieder: Oui, j’arrive. Dans vingt minutes.
Noch etwas Bedenkzeit also, ich hätte wieder in mein Auto steigen und woanders hinfahren können. Aber meine Neugier war größer als meine Bedenken. Ich wollte auf einmal wissen, ob er es war, wie er jetzt aussah und wie er reagierte, ja, ob er mich überhaupt erkannte. Gegen die Aufregung und meine guten Vorsätze trank ich in der Dorfkneipe nebenan ein Bier.

Zwanzig Minuten später legte ich Geld auf den Tisch und ging wieder hinüber zum Hecht. Mein Kopf war angenehm schwummerig, zu klar sollte er für mein Vorhaben nicht sein. Die Tür auf der Straßenseite war geöffnet und ich trat ein. Hinter der Theke stand ein großer Mann, leicht vornüber gebeugt. Vom Gesicht war unter den graubraunen Locken zunächst nur eine kleine silberne Brille ganz vorn auf einer kugeligen Nasenspitze zu sehen. Das Lokal war nicht typisch elsässisch eingerichtet. Schnörkellose Holztische und Stühle, gelbe Stoffdecken, an den Wänden alte Schwarzweiß-Fotografien aus dem Ort.

Zwei wache grüne Augen sahen mich über die kleine, silberne Brille hinweg an, tasteten fragend mein Gesicht ab: Bonjour, vous avez sonné? Ja, antwortete ich, und dass ich ein Zimmer suchte für drei Nächte. Obwohl ich mir Mühe gab mit dem Französisch fragte er gleich, wo ich herkäme, taxierte mich wieder, als er Frankfurt hörte und gab mir dann den Schlüssel mit der Nummer Zweiundzwanzig in die Hand. Sein rotweiß kleinkariertes Hemd saß stramm in der Hose und wölbte sich über der beachtlichen Körpermitte. Jean-Pierre war schlank gewesen, richtig dürr, aber die Größe stimmte. Ich nahm den Schlüssel und betrat das enge, hohe Treppenhaus. Warum hatte er mir die Zweiundzwanzig gegeben, obwohl das Haus doch leer stand, fragte ich mich. Am zweiundzwanzigsten August war Jean-Pierre damals abgereist. Er musste es sein. Grüne Augen und braune Locken stimmten. Aber der Rest? Das runde Gesicht. Die Wölbung um die Mitte. Ich wusste es nicht. Fünfundzwanzig Jahre dazwischen. Ob er mich auf die Probe stellen wollte? Die Zweiundzwanzig war unter dem Dach, aber schön hell, mit modernen Möbeln und mit großem Bad, ganz unfranzösisch. Die Matratze war fest und damit auch ganz unfranzösisch für meine Begriffe. Das alles passte nicht in mein Schnittmuster und weckte einen verschütteten Leichtsinn. Ich wollte bleiben und stieg die Treppe wieder hinunter.

Der Wirt spülte Weingläser mit grünen Stielen und trocknete sich die Hände ab, als er mich sah. Er nannte mir den Preis, ich stimmte zu und er holte ein Blöckchen aus einer Schublade, wo ich meinen Namen eintrug. „In-grid“, murmelte er in französischer Aussprache und mit einer Pause in der Mitte, so wie er es früher getan hatte und mein Herz hüpfte vor Aufregung. C’est toi? Ja, ich bin’s, entgegnete ich. Oui, c’est moi – Jean-Pierre. Mais non! Mais oui. Langsam, ganz langsam, legte er das Geschirrtuch und den Block beiseite, um hinter der Theke hervor, mit drei Sätzen auf mich zuzuhopsen. Mein Gott, es war Jean-Pierre und, mein Gott, er war rund. Eigentlich war er massig oder sogar ein bisschen fett, aber das durfte einfach nicht sein. Das wollte ich auch später Kathrin nicht erzählen müssen. Eigentlich war er ja auch nicht richtig fett, nur um die Mitte herum, war es eben zuviel. Zuviel für das Zugehörigkeitsgefühl.

Der massige Jean-Pierre blieb vor mir stehen, schaute mich über die silberne Brille hinweg ganz genau an und zögerte kurz, bevor er die Arme um mich schlang, mich hochwirbelte und mir links und rechts irgendwo zwischen Ohr und Mund einen Kuss hindrückte. Das gibt’s nicht, sagte er immer wieder und schnaufte. Wo ich die Adresse her hatte, wollte er wissen und ich stotterte irgendwas von Internet und fragte mich, ob ich ihn unangenehm finden und schon bereuen sollte, dass ich hergekommen war. Aber ich fand ihn nicht unangenehm, vielmehr fand ich, dass er es immer noch verstand, mich anzufassen.

Das moderne Zeug sei also doch für was gut, meinte Jean-Pierre und holte eine Démi Bouteille Crémant aus dem Kühlschrank hinter der Theke. Sein Deutsch war gut. Besser als früher. Er hatte nur diesen ganz winzigen französischen Akzent, der mehr aus einer anderen Melodie des Deutschen bestand, als aus holpriger Grammatik, und der mich gleich aus der Fassung brachte. Wir saßen an dem einzigen runden Tisch und seine grünen Augen musterten mich, schienen immer wieder zu fragen, was noch da war von früher oder was anders war. Der Sekt frischte das angenehm schwummerige Gefühl in meinem Kopf auf und verleitete mich gleich zu der einfältigen Bemerkung, ob er mich betrunken machen wollte. Wir lachten und ich fragte mich wieder und wieder, wie ich ihn denn finden sollte. Ich kannte ihn ja eigentlich nicht so gut. Und das, was die ganze Zeit in meinem Kopf gewesen war? Ja, was war da eigentlich? Worte, eine Stimme, ein Paar Augen, ja, ich glaube, ich habe am längsten versucht, seine Augen zu erinnern, dieses dunkle Grün, mit den beiden kleinen Längsfalten dazwischen, die hatte er früher schon beim Zusammenkneifen. Aber sonst? Ich hätte ihn nicht erkannt, wenn ich ihn zufällig irgendwo gesehen hätte und wahrscheinlich hätte ich ihn keines Blickes gewürdigt.

Vom Plätzchen holte ich mein Auto, fuhr in die enge Hofeinfahrt und brachte meinen Trolley und mein Osterhasenpäckchen nach oben. Ich öffnete das Fenster, inspizierte den kleinen Kühlschrank und packte meinen Koffer aus. Ob er verheiratet war? Aber irgendwie wirkte er, als ob er allein lebte. Die kleine Nachlässigkeit um die Haare und die größere um die Figur. Im Bad nahm ich eine der kleinen rechteckigen Seifen und duschte. Früher hatte ich sie mal gesammelt. Ich wählte einen Pullover mit A-förmigen Schnitt, um meine winzigen Hüften zu kaschieren, ärgerte mich aber gleichzeitig, weil ich mir über so etwas Gedanken machte. Jean-Pierre schien so was nicht zu stören. Die Sonne warf bunte Punkte auf mein Bettzeug und lockte mich hinunter in den Ort. Vielleicht kam Jean-Pierre mit.

Er saß in der Gaststube vor einer aufgeklappten Speisekarte und machte Notizen. Obwohl er mit dem Koch noch die Gerichte durchsprechen wollte, ließ er sich gleich überreden, stand auf und fuhr sich mit den Daumen in den Bund seiner hellen Cordhose, um sie über den Bauch nach oben zu ziehen. Als sich unsere Blicke trafen, lachte er und sagte: Ja, ja, mir schmeckt mein eigenes Essen. Und in diesem Moment mochte ich seine gemütliche kleinkarierte Rundung. Ich fragte mich sogar, wie sie unter dem Hemd wohl aussah und dabei lief mir ein kleiner ungehöriger Schauer über den Rücken.

Wir traten auf den Rathhausplatz, der aussah, als hätte er sich für uns herausgeputzt, mit seinen glänzenden Giebeldächern in der Abendsonne. Häuserfronten, Fensterläden, Tulpen, Osterglocken, Himmel – alles leuchtete und ich beneidete Jean-Pierre um seinen schönen Wohn- und Arbeitsort. Er hat bestimmt noch nie ein Bürohaus von innen gesehen, dachte ich, oder den Schacht einer S-Bahn-Haltestelle in deprimierendem Kalbsleberwurstrosa. Aber schließlich hatte er in Paris gelebt, sagte ich mir und fand mein Denken gleich ungerecht. Aber selbst die Metro war etwas Besonderes, allein der Geruch machte einem unmissverständlich klar, wo man war.

Jean-Pierre sprach über den zurückgegangenen Reiseverkehr aus Deutschland, warnte mich vor mächtigen rotbraunen Hundehaufen und führte mich zu einem kleinen Kirchlein in Richtung der Weinberge hinauf. Ein wenig außer Puste zeigte er mir die ferne Linie des Schwarzwalds am Horizont. Die Aussicht auf den Ort im graublauen Dämmerlicht machte mich ganz stumm und ich dachte auf einmal mit Wehmut an Sonntag, da ich abreisen musste. Das war nicht lange hin, ging es mir durch den Kopf und dann, dass ich diese Tage aus vollen Zügen genießen sollte. Insgeheim beschloss ich, den Pfad um die Weinberge herum zu meiner morgendlichen Laufstrecke zu machen.

Wir gingen noch eine Runde durch den Ort und ich bemerkte auf der Hauptstraße Schaufenster mit leeren Auslagen. Brauner, zerschlissener Teppichboden, ein paar verlassene Grünpflanzen mit staubigen Blättern. So einen Laden könnte man sich herrichten, dachte ich, und fragte mich, ob das genug abwerfen würde. Jean-Pierre zeigte mir, wo sein Winzer war und bot an, eine kleine Weinprobe bei ihm zu organisieren. Wir standen wieder vor dem Goldenen Hecht, er wünschte mir einen schönen Abend und kam näher mit dem Gesicht. Ich konnte seine stacheligen Barthärchen spüren, die an den Spitzen weiß glänzten, als er mich auf die Wange küsste. Nein, hier war keine Frau im Spiel, so schlecht, wie er rasiert war. Vielleicht war es ihm unangenehm, dass ich ihn hier so überfallen hatte. Oder vielleicht war es eher mir unangenehm. Aber, wenn mich das störte, hätte ich wohl nicht herkommen sollen. Mit einem Nicken verschwand er durch die Restauranttür und ich ging nach oben, um meine Tasche und etwas zum Lesen zu holen. Im Ort hatte ich eine kleine Brasserie gesehen. Au Lion Rouge, stand über dem Eingang. Von drinnen leuchteten rotkarierte Tischdecken.

Wenig später saß ich an einem Fenstertisch, wie in einer kleinen französischen Spielzeugwelt. Nach vorne raus blickte ich auf das Plätzchen mit dem kleinen Brunnen. Nach hinten ging mein Blick zur holzgetäfelten Theke, an der zwei Frauen standen und rauchten. Die ältere von beiden, sicher über fünfzig, hatte mir meinen Wein gebracht. Beide hatten gut geschnittene, leicht verlebte Gesichter und blondierte zurechtgemachte Haare. Eine unübersehbare Selbstsicherheit lag in ihrem Auftreten, sogar Eleganz, obwohl sie sicher hier vom Dorf waren. Ich wartete auf einen kleinen Flammenkuchen und blätterte in meinem Buch, das mir als Tarnung diente und zur Selbstinszenierung für die, die draußen vorbeigingen. Ich brauchte es nicht mehr lesen, viel mehr war es eine Erinnerungsstütze zum Nachdenken oder zum Schwelgen in alten Zeiten. Jules & Jim von Henri-Pierre Rocher. Entdeckt hatte ich es in jenem grauen Herbst, der auf den Sommer mit Jean-Pierre folgte. Ich hatte Manfred gerade kennengelernt und traf mich trotzdem mit Jean-Pierre in Paris. Ich las das Buch und fühlte mich ein bisschen wie Kathe zwischen Jules und Jim. Manfred war von Anfang an eine Notlösung gewesen, die ich schließlich heiratete.

Die ältere Bedienung unterbrach meine Gedanken mit einem dampfenden Flammenkuchen, der weniger klein war als gedacht, dessen Duft mich aber sofort überzeugte, ihn ganz aufzuessen. Während ich vorsichtig abbiss, beobachtete ich Männer meines Alters in Motorradkleidung, die sich an der Theke trafen, Bier tranken im Stehen, scherzten und übergangslos vom Alemannischen ins Französische wechselten. Einer hatte eine Rolle frischgedruckter Plakate unter dem Arm, die eine Motorradralley angekündigten. Sie freuten sich wie Schuljungen und ich fragte mich, wann ich mich zuletzt über irgendeine sinnlose Freizeitbeschäftigung gefreut hatte. Kaputt von der Woche, verbrachte ich die Wochenenden vor dem Fernseher. Bevor ich hierher gefahren war, hatte ich gar nicht gewusst, wie sehr mich das anödete.

Nach dem Essen bestellte ich ein Eau de Vie, weil ich das mit Jean-Pierre immer so gemacht hatte. Die Mirabellen stiegen mir in den Kopf und danach bereitete es mir großes Vergnügen, an den Motorradjungs vorbei auf die Toilette zu wanken und im Vorbeigehen lässig französisch die Rechnung zu bestellen.

Wie im Flug war ich in meinem Hotelzimmer und in meinem Bett, nachdem ich mir mit einem feuchten Kosmetiktuch nachlässig das Make up aus dem Gesicht gewischt hatte. Von Jean-Pierre war nichts mehr zu sehen und ich war ein bisschen traurig. In der Nacht wachte ich auf, weil mir heiß war und nahm eine der beiden Wolldecken aus dem Bettbezug. Ob Jean-Pierre mir noch gefiel? Mit Bauch? Aber um Äußeres war es bei uns ja nie so sehr gegangen. Zwischen uns war etwas Wildes gewesen, ein sich Hingeben müssen oder Hergeben, das mir unheimlich war. Das konnte nicht normal sein, das konnte nicht halten fürs Leben, das hatte ich danach nicht mehr erlebt. Und jetzt wollte ich wissen, ob es das noch gab.

Am Morgen drang das Klingeln meines Handys pflichtgemäß in meinen schwindeligen Kopf und machte mir klar, dass ich mich hatte hinreißen lassen, hinreißen zum Unvernünftigsein. Aber diese ganze Tour war unvernünftig. Eine Spinnerei. Wie konnte ich bloß? Zentnerschwer lag ich auf meinem Kissen und wollte nichts gehört haben. Du hast gestern Wein getrunken und Schnaps und Flammenkuchen gegessen. Das wird sich niederschlagen. Sichtbar. Fühlbar. Wie in Trance zog ich die Jogginghose über und stieg in die Turnschuhe. Ich gehorchte meiner Selbsthypnose und verließ das Zimmer. Ganz leise, damit Jean-Pierre nichts hörte.

Die Luft war klar und kalt, der Himmel grauweiß. In lockerem Trab ging es über den Rathausplatz bis zu den Stufen, die ich zügig nach oben stieg. Mein Puls ging ungleichmäßig. Auch das noch. Aber irgendwann hatte ich die Steigung überwunden und meinen inneren Schweinehund und fand mein Tempo. Froh, dass ich losgelaufen war, freute ich mich am Himmel, der langsam blau wurde, Verheißungsblau. Das Leben spüren wollte ich. Vielleicht war es das, was mich hergetrieben hatte. Oder ein Nachprüfen müssen, ob das noch ging.

Nach einer halben Stunde war ich wieder bei den Stufen und über den Platz zurück am Hotel. In der Hoffnung, dass Jean-Pierre etwas zum Frühstücken hätte, betrat ich später den Gastraum. Mit seiner kleinen silbernen Brille lugte er hinter einer Zeitung hervor, auf dem Tisch einen Korb voller Croissants. Er legte die Zeitung zusammen, kam mit der Nase näher und küsste mich in der Nähe des Schlüsselbeins. Kein Abwenden von mir auf diese leise Zudringlichkeit, sogar eher ein Zuwenden und wieder diese kleine ungehörige Gänsehaut, die mir unheimlich war. Wie du duftest, sagte er und seine Augen blickten über den Brillenrand hinweg in meine, forschend nach meiner Reaktion. Und du bist rasiert, entgegnete ich und wir lachten. Er fragte, ob ich schon draußen war, lobte meine Tapferkeit und bot mir Croissants an. Ich erzählte, wo ich am Vorabend gewesen war und er konnte es gar nicht glauben, dass ich mich mit so einer einfachen Kneipe zufrieden gab. Das passe doch nicht zu mir, fand er und ich dachte, mein Gott, Du hast ein ganz falsches Bild von mir. Von früher war da wohl nicht mehr viel übrig geblieben.

Wenn ich ihn ansah, fragte ich mich, ob er wegen mir beim Friseur gewesen war. Das lockige Haar war gewaschen, gekämmt, seine Haut sah frisch aus. Während er zwei große Tassen mit Milchcafé von der Theke an den Tisch brachte, betrachtete ich sein grünes Hemd, das sichtlich weniger spannte und wurde den Gedanken nicht los, dass er sich zurechtgemacht hatte für mich und das gefiel mir.

Wir frühstückten und er gab mir gutgemeinte Ratschläge, wo ich in Straßburg nicht parken und nicht einkaufen sollte. Solche Ermahnungen passten nicht zum ihm, sondern eher zu Manfred und ich mochte sie nicht. Vernünftig war ich selbst, da brauchte ich keine Unterstützung. Ob Jean-Pierre wohl auch vernünftiger geworden war? Wahrscheinlich, sonst hätte er mich gestern vielleicht nicht allein zu Abend essen lassen.

Aber dann sagte er, dass er die Weinprobe bei seinem Winzer ausgemacht hätte und ich dachte, nein, vernünftig ist der nicht geworden. Ich äußerte meine Bedenken, Wein vor dem Abendessen zu trinken, aber Jean-Pierre zwinkerte und sagte, Du sollst ja nur probieren.

Trotz meiner vagen Zusage fuhr ich nach einem sehr erfolgreichen Ausflug gegen Abend wieder in die Hofeinfahrt ein, auf dem Rücksitz einen neu erworbenen lindgrünen Lacklederrucksack und ein nach Mandarinen duftendes Eau de Toilette.

Die Küchentür des Goldenen Hechts stand zum Hof hin offen und von drinnen kam ein verboten guter Geruch nach ausgelassener Butter. Jean-Pierre half dem Koch und fragte mich, ob ich einen schönen Tag gehabt hätte. Ich zeigte ihm die Sachen. Er schüttelte lächelnd den Kopf und meinte, dass ich damit sicher auffallen würde. Ein kleiner Triumph, den ich still genoss. Ich brachte die Sachen nach oben und versprach zur Weinprobe gleich wieder unten zu sein. Das Mittagessen hatte ich mir in Aussicht auf ein reichliches Abendessen gespart.

Oben packte ich Portemonnaie und Lippenstift in mein neues Rucksäckchen und tauschte den Übergangsmantel gegen die kurze Jeansjacke. Jean-Pierre erwartete mich im grünen Hemd von heute morgen und sah schon wieder frisch gewaschen aus. Aber schließlich erwartete er am Abend Gäste, sagte ich mir. Über den Hof gingen wir rechts die Hauptstraße hinunter und ein paar Häuser weiter, wieder in einen anderen Hof hinein. Leipp-Leininger stand über der Tür des kleinen Verkaufsraums. Jean-Pierre klingelte. Wenig später kam ein grauhaariger, kleiner Mann durch die Tür hinter der Ladentheke und gab mir die Hand. Jean-Pierre hat mir erzählt, die ganze Geschichte, sagte er verschwörerisch und ich dachte, Oh Gott, und sah zu Jean-Pierre hinüber, aber der lächelte leise und sagte, nicht alles. Gibt es noch mehr? scherzte der Weinbauer, der immer noch meine Hand hielt und uns dann aufforderte, ihm zur folgen. Durch einen dunklen Flur ging es eine Sandsteintreppe hinunter, etwa fünfundzwanzig Stufen. Leipp-Leininger knipste Licht an, und wir befanden uns in einem beeindruckend langen Tonnengewölbe, ebenfalls aus Sandstein, an dessen Wänden riesige Fässer standen und weitere Gänge seitlich abzweigten. Unsere Schritte hallten in dem hohen Keller, den ich unter dem Fachwerkhof nicht vermutet hatte.

Die Luft war trocken und kühl und roch angenehm nach Erde. Mich fröstelte leicht, aber dafür war meine Mattigkeit verschwunden. Fangen wir hinten an, sagte Leipp-Leininger und zeigte nach links. An der Ecke zur Abzweigung vom großen Gang stand ein Fass, das wir als Stehtisch nutzten. Jean-Pierre nahm drei Rieslinggläschen mit grünen Stielen aus einem alten Küchenschrank an der Wand und stellte sie auf das Fass. Der Winzer verschwand nach links und wir hörten ihn mit Flaschen hantieren. Wir hatten zu warten und konnten einander kaum ausweichen, weil ich mich nicht auskannte und Jean-Pierre mich nicht allein durch die Gänge führen konnte, ohne sich verdächtig zu machen. Eine gute Gelegenheit, ein bisschen mehr über den langen Zwischenraum, den man ein halbes Leben nennt, zu erfahren. Wie lange kennt ihr euch und wie bist du eigentlich hier gelandet? setzte ich an. Ein schneller Blick von der Seite, ein Abtasten, Abprüfen wie ein Fragen, ob es jetzt anfing, das Auspacken, das Preisgeben vor dem Anderen und wohin das eigentlich führen sollte. Tja, wie lange? Fangen wir vielleicht auch hinten an, sagte Jean-Pierre. Das Lokal mache ich noch nicht so lang. Zwei Jahre vielleicht. Vorher nur Zimmer mit Frühstück. Leipp-Leiniger kenne er von dem Elsässer in Paris, wo er zuletzt gearbeitet habe. Der Winzer kam mit einer schlanken, grünen Flasche winkend von links auf unser Fass zu. Er zog quietschend den Korken, schnupperte daran und schenkte mir einen Schluck ein. Das sei ein Pinot Blanc von 2003, sagte er und forderte mich zum Probieren auf. Ich schnupperte pflichtbewusst und nahm dann einen Schluck. Mir gefiel, dass die grünstieligen Gläschen nicht nur für Touristen gemacht waren, sondern für den Alltagsgebrauch und dass der Winzer nicht irgendwas von Aprikosenduft und feiner Blume schwafelte. Diese angelernten Weininterpretationen hatte ich zur Genüge bei Manfred gehört, nachdem er aufgehört hatte, Colabier zu trinken.

Der Wein war kräftig, mit einem leicht erdigen Geschmack, erinnerte an warmen Boden nach einem leichten Regen. Ich nickte und Leipp-Leininger schenkte uns allen ein. Santé, sagte er und schlürfte, stolz, dass es mir schmeckte. Jean-Pierre prostete mir zu und wir hatten dann beide denselben Geschmack im Mund, und mir fiel ein, dass 2003 dieser Jahrhundertsommer gewesen war, in dem ich bei Manfred ausgezogen war. Da warst du schon hier, sagte ich und deutete auf das Etikett. Ja, da habe ich die Terrasse zum ersten Mal aufgehabt.

Und Du? fragte er. Das weiß ich noch gut. Ich habe bei einer Eventagentur gearbeitet, die geradewegs auf die Insolvenz zusteuerte. Er wusste vielleicht gar nicht, was das sein sollte, eine Eventagentur, ging es mir durch den Kopf und dann, dass das nur so ein hochtrabendes Wort war, für eine Firma, die ganz profane Tätigkeiten verrichtete. Wir haben damals einen Ball vorbereitet, der niemals stattgefunden hat. Einladungen verschickt, Sponsoren gesucht, Räume angemietet, Plakate gedruckt und dabei ahnten wir alle schon, dass das Geld nicht zusammenkommen würde. Wie eine Fata-Morgana, die in der Hitze vor einem herflimmert, war das gewesen, erzählte ich und empfand erst recht die Sinnlosigkeit, die sich durch meine gesamte Berufstätigkeit zog.

Leipp-Leininger schwenkte mit zwei Flaschen aus einem der Gänge zu uns heran und ich war froh, das nicht mehr weiter ausführen zu müssen. Gerade nach dem Pinot-Blanc müssten wir den Riesling probieren, meinte er und entkorkte beide Flaschen. Diesmal schenkte er gleich die Gläser voll, ohne Probierschluck für mich. Wir tranken und der Riesling war weiniger und runder als der Pinot-Blanc, hatte eine gewisse Schwere. Vite-vite, Trinkt aus, trinkt aus, trieb er uns an und schenkte uns auch schon aus der zweiten Flasche ein. Das sei was für Verliebte, ein Grand Cru. Von Jean-Pierre kam wieder dieser schnelle Seitenblick. Lidaufschlag, Lidabschlag – wie Flügelschlagen, wie ein kurzes Aufspannen des Gefieders, so dass ich das Grün in seinen Augen aufflackern sah, wie eine schöne, leuchtende Feder im Grauen, Gedämpften außenrum und musste lächeln, ohne dass ich es wollte, obwohl ich wusste, dass dieses Lächeln ein Fehler sein konnte, weil keiner von uns beiden wusste, wohin es letztlich führen sollte. Der Winzer wusste es jedenfalls, dachte ich und hatte diese Bemerkung bestimmt mit Absicht gemacht. Er prostete uns eifrig zu und der Wein hinterließ die Ahnung einer Geschmackserinnerung auf meiner Zunge, die ich mir mit Macht ins Gedächtnis zurückrufen wollte, aber es blieb bei der Ahnung, so wie der Gehalt des Weines auch eine Ahnung blieb. Ich fühlte aber doch, wie sich in meinem Kopf wieder dieser mit Leichtsinn vollgesogene Schwamm breit machte. Ich bat um ein Stück Brot und Leipp-Leininger legte unsere beiden linken Hände auf dem Fasstisch aufeinander und verschwand. Wieder der Seitenblick von Jean-Pierre, die Frage, ob ich wohl wegziehen würde. Aber ich zog nicht weg, wollte wissen, wie weit er wohl gehen würde, hier im Gewölbe. Er zog auch nicht weg, sondern strich mit den Fingerkuppen über meine Haut, wie beiläufig und redete weiter über seinen Winzerfreund, der nicht verstehen konnte, dass Jean-Pierre nie geheiratet hatte. Die langen Arbeitszeiten, die Wochenenddienste in der Gastronomie seien Schuld daran gewesen, dass seine Beziehungen nie lange gehalten hätten und fast jedes Jahr habe er einen neuen Job angefangen. Zuletzt war es der Elsässer in Paris und Marie, die in ihre Heimat zurückwollte. Da sei er mitgegangen - auch, weil ein bisschen Landleben nicht schaden konnte, zumal er manchmal diese Schmerzen im rechten Arm bekommen hatte. Damals habe ich angefangen darüber nachzudenken, was ich vom Leben noch will, sagte Jean-Pierre und wir sahen uns an, lange und ohne Ausweichen, das erste Mal seit ich da war.

Leipp-Leininger schwenkte den Brotkorb und unsere Hände trennten sich. Ich bring’ euch noch was ganz Edles, waren seine letzten Worte als er wieder in einem der Seitengänge des Gewölbes zwischen seinen Regalen verschwand. Eigentlich wollte ich nach einem Brot greifen, weil es mich im Magen zwickte, aber, meine Hand, die zuvor die von Jean-Pierre gehalten hatte, war wie gelähmt. Hinter uns klirrten Flaschen und ich dachte, verdammt, jetzt ist es soweit und fragte, Und? und meinte damit, ob er es schon wusste, was er vom Leben noch wollte und vermutete, dass auch er sich fragte, ob es die gewünschte Richtung genommen habe und er drehte den Kopf zu mir und fragte: Was? und war plötzlich ganz nah und ich blickte auf seinen Mund, einen Mund, der mich früher einmal viel aufs Spiel setzen ließ und heute gab es nichts mehr, was ich aufs Spiel setzen konnte. Seine Hand war in der Zwischenzeit um meine Taille gewandert, hatte sich dort festgesetzt und ein Mittelfinger vergrub sich sogar in meinen Hosenbund und da kam von hinten aus den Gängen plötzlich ein hohes, schabendes Geräusch wie von Glas auf Glas, dann ein dumpfer Ton, der uns aufspringen und in den Gang laufen ließ, den Geräuschen nach. Die kleine silberne Brille blieb auf dem Holzfass liegen.

Wir hörten ein Stöhnen, gefolgt von einem scharfen Splittern und gleich darauf sahen wir Leipp-Leininger am Boden liegen, neben Glasscherben und dem verschütteten, säuerlich riechenden Wein. Die Flaschen auf dem obersten Sims waren noch leicht in Bewegung und lagen ungeordnet nebeneinander. Scheinbar hatte er versucht, eine Flasche von dem sowieso lückenhaft belegten Sims herunterzuholen und dabei waren die anderen ins Rollen gekommen. Jean-Pierre nahm einige Flaschen aus dem untersten Regal und sicherte damit die Flaschen ganz oben. Ich hockte bereits unten über dem bewusstlosen Leipp-Leininger und hob seinen Kopf hoch, der eine Beule hatte, rechts an der Schläfe. Blut gab es keins. Vielleicht eine Gehirnerschütterung. Jean-Pierre kniete sich jetzt neben mich, befühlte die Beule, sagte Merde und klopfte Leipp-Leininger ein wenig auf die Wangen. Was machen wir jetzt, wollte ich von ihm wissen, kam mit dem Kopf zu schnell nach oben und gab Jean-Pierre einen Kinnhaken, so dass er sich auf die Lippen biss und Tantpist! sagte, und ich, lass mal sehen und besah mir diese schön geschwungenen Lippen mit der kleinen roten Schwellung unter dem linken Bogen und wollte wohl prüfen, ob die Lippe verletzt war, ob sie etwa blutete und setzte ganz instinktiv meinen Mund auf seinen und ging auch gleich mit der Zunge über die geschwollene, heiße Stelle, die ein bisschen offen war und roh schmeckte. Seine Hände griffen meine Arme, die immer noch Leipp-Leiningers Kopf hielten und seine Lippen küssten zurück, ein Nachprüfen mit dem Mund, ob er das gerade wirklich gespürt hatte und da kam von unten ein Stöhnen und Leipp-Leininger bewegte seinen Kopf in meinen Händen, sagte Merde, griff sich an die verbeulte Schläfe und ließ durch die Bewegung wieder einen Raum zwischen unseren Lippen, unseren Köpfen entstehen. Soll ich noch liegen bleiben, fragte er lächelnd und wir standen schnell auf und ich faselte etwas von Notarzt und möglicher Gehirnerschütterung, aber Leipp-Leininger winkte ab und meinte ein Eisbeutel würde es tun und im gleichen Atemzug griff er wieder ins oberste Sims zu den ungeordneten Flaschen, aber Jean-Pierre war schneller und Leipp-Leininger bat ihn um eine Flasche, Tokay-Pinot Gris aus dem Jahrhundertsommer. Wir sollten ihn zusammen trinken. Und ich steckte die Flasche in mein neues Rucksäckchen und wir verließen alle gemeinsam den Keller.

Wieder im Hof, versprach ich dem Winzer, vor der Abreise ein Kistchen Wein zu holen. Leipp-Leininger ging ins Haus und wir mit der Flasche zurück zum Goldenen Hecht. Aus der Küchentür im Hof bruzzelte es unvermindert und Jean-Pierre fragte den Koch, ob schon jemand da sei und der sagte, ein Ehepaar, das Bäckaofa bestellt hätte. Vielleicht wusste Jean-Pierre nicht, was er sagen sollte und war froh um die Ablenkung. Ich war es jedenfalls erst einmal, weil ich mich zum hundersten Mal fragte, was ich hier eigentlich wollte und wo das denn hinführen sollte und dafür immer noch keine Antwort hatte.

Ich musste unbedingt etwas essen, wenn ich wieder klar werden wollte, ging hinter Jean-Pierre her und setzte mich an seinen Stammtisch. Er stellte unseren Tokay in den Kühlschrank hinter der Theke und ging gleich zu dem Ehepaar hin, zwei dicken Deutschen um die fünfzig. Auf dem Rückweg zur Theke fragte er mich, was ich trinken wollte und ich konnte sehen, dass seine Lippe immer noch geschwollen war und konnte es nicht lassen, mir mit der eigenen Zunge über die Lippen zu fahren. Tut noch verdammt weh, sagte er und zwinkerte schief hinter der kleinen silbernen Brille. Ich sagte nichts darauf und bestellte erst einmal Wasser, als ob das hätte helfen können gegen diesen zunehmend seltsamen Bewusstseinszustand in meinem Kopf, der Bilder hervorbrachte, von dem Geschehen im Keller und von dem, wie es hätte weitergehen können und der immerzu fragte: Soll ich? Will ich? Und was wird Kathrin sagen?

Ich ließ mir also Wasser bringen und auch etwas zu essen, ließ ihn haarklein alle Speisen, Zutaten und Zubereitungsarten aufzählen, bis er am Ende war mit seinem Deutsch und entschied mich schließlich für Schnecken im Pastetchen und Zanderfilet mit Buttermandeln. Die Weinprobe hatte mich endgültig dazu gebracht, die Kalorienzählerei aufzugeben und was sollte so ein Fisch schon anrichten und die paar kleinen Schnecken? Ich fühlte mich abenteuerlustig wie ein Teenager und genoss die Blicke, die immer mal herüberkamen von der Theke, wo er das Gläserpolieren wieder aufgenommen hatte, manchmal eines in die Luft hielt, so als prüfe er den Glanz, und mich durch das Glas hindurch unverhohlen ansah.

In der Zwischenzeit hatte sich das Lokal gefüllt und vor mir in der Mitte des Raums saß eine große Gruppe, zehn Mann etwa, und Jean-Pierre hatte alle Hände voll zu tun. Die Gruppe bestand scheinbar aus befreundeten Paaren, alle so in unserem Alter und zwei Ältere. Vielleicht waren es auch Geschwister mit ihren Partnern und Eltern, wer konnte das schon genau sagen. Sie tranken Crémant und aßen kleine Häppchen, schwatzten, schmatzten, krümelten mit dem Brot herum und sahen so aus, als könnten sie diese Augenblicke so richtig genießen, ohne ein Vorher, ohne ein Nachher, ohne ein Morgen, jedenfalls schien mir das so und ich beneidete sie ein wenig oder vielleicht war es kein Neid, sondern nur ein bisschen Wehmut, der verstärkt wurde durch die deutschen Eheleute, die vor blitzblank geleerten Tellern beide mit ihren roten Köpfen etwas erschöpft aussahen, so als sei in ihren Bäuchen kein Zentimeter mehr frei für irgendeinen köstlich süßen Nachtisch.

Jean-Pierre ging trotzdem hin, um zu fragen und kam auf dem Rückweg vorbei, um mir Wasser nachzuschenken. Er setzte sich neben mich, nahm meine Gabel, schob sich ein Stück von meinem Zander in den Mund und schloss die geschwungenen Lippen mit einer sanften Bewegung, als würde ihm das zarte, helle Fleisch auf der Zunge zergehen. Ich sah ihn an und fragte mich, warum ich ihm solche Vertraulichkeiten durchgehen ließ, aber es war mir nicht unangenehm, ich fand sein Verhalten wohl angemessen, ja ich wartete sogar ein wenig ungeduldig darauf, dass mehr passierte, als das zufällige Streifen meiner Schulter, das fürsorgliche Zurückstreichen meines Haars und als alle Gäste bezahlt hatten, sagte er: Lass uns den Tokay kosten. Mit Gänseleber schmeckt er am besten und ich sagte, ich kann nicht mehr und dann, denkst Du vielleicht, ich sei nur zum Essen hergekommen, weil ich es plötzlich wissen wollte, gleich und auf der Stelle und er setzte sich wieder hin und sagte: Nein, das denke ich nicht. Aber wie willst Du denn, dass ich mich verhalte nach all den Jahren? Ich kann doch nicht so tun, als sei keine Zeit vergangen, so tun, als hättest du mich damals nicht fallen lassen. Das hat wehgetan, diese Gewissheit, dass du nicht mehr kommen würdest und auf der anderen Seite dieses Hoffen, dieses Warten. Weit offen waren seine Augen hinter der kleinen silbernen Brille bei diesem Satz und dunkelgrün wie ein Gebirgssee und ich erschrak, weil ich immer nur von mir ausgegangen war und von meinem schiefgegangenen Leben und dabei war seines auch nicht nach irgendeinem Plan verlaufen, mit dem einzigen Unterschied, dass er nie einen gehabt hatte. Ich will, dass Du mich wahrnimmst, wie ich jetzt bin, mit dieser Fehlsichtigkeit und mit diesem wirren graubraunen Haar und diesem Bauch, sagte er und legte meine Hand dorthin.

Und ich begriff in diesem Moment, dass ich die Zeit nicht zurückdrehen konnte, um irgendein Stück Leben nachzuholen und dass wir nicht mehr dieselben waren wie damals, auch wenn wir uns scheinbar immer noch mochten. Es tut immer noch weh, meinte er und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, aber wahrscheinlich meinte er sein Herz oder seine Seele, jedenfalls war er in diesem Moment schon wieder ganz nah, so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte, der eine Spur von Butter und Wein hatte und dann fragte er leise aber bestimmt, ob wir also den Tokay oben trinken wollten. Von der Tür her grüßte der Koch und ich dachte, verdammt, der weiß immer noch, wie es geht.

Jean-Pierre stand auf, schloss die Tür zur Terrasse und die Tür zur Straße und ging dann hinter die Theke, den Wein zu holen und zwei grünstielige Gläser. Obwohl ich kein Wort gesagt hatte, war er sich sicher und ich war mir sicher und wir stiegen hintereinander die Hühnerleiter hoch, wie Schicksalsgefährten, von denen keiner anders konnte. Ich schloss auf und er ging kurz ins Bad und danach ging ich und sah, dass er eine der kleinen Seifen aufgerissen und benutzt hatte, nahm sie auch und fragte mich danach, ob ich, wie er, alles wieder anziehen sollte, ließ aber die Unterwäsche weg.

Draußen hatte er den Wein bereits geöffnet und wir lagen auf dem Bett, tranken und schmeckten den Wein im Mund des anderen. Als er bemerkte, dass ich keine Unterwäsche anhatte, ging es sehr schnell mit dem Ausziehen und ich muss es zugeben, ich reckte mich nach ihm und genoss es, als er sich schwer auf meinen Rücken legte, so dass mein Atem flacher ging. Die ganze Nacht genoss ich und konnte an nichts denken und vielleicht war es das erste Mal oder nein, das zweite Mal, dass ich nichts denken konnte dabei, nicht daran, wie ich wohl aussah und wie er wohl aussah, und nicht daran, was aus uns werden sollte.

Danach hatte Jean-Pierre Hunger und fragte, ob wir nicht den Schokoladenhasen essen könnten und so zerbrachen wir Il fait beau, der auf meinem Nachttisch gestanden hatte, und tranken den Rest Wein dazu.

Sonntag, 7. März 2010

Herr und Frau Schmidt

Ein anthrazitfarbener Mercedes der S-Klasse glitt den legendären Highway Number One herunter. Der Wagen bremste und fuhr auf den Parkplatz eines Ausflugrestaurants. Dieses war im Stil eines französischen Landschlößchens gebaut und leuchtend weiß verputzt. An seinen Mauern ringelte sich kein wilder Efeu empor, aber es standen Blumenkästen mit roten Geranien auf den Fenstersimsen. Aus einem mächtigen Schornstein stieg Rauch in grauen Spiralen in den rosagefärbten Abendhimmel, der einen sonnigen Herbsttag beendete. Vor dieser Kulisse, die den kitschigsten Ansichtskarten der Gegend alle Ehre machte, hielt der Wagen knirschend an.

Ein grauhaariger Herr mit kräftiger Gesichtsfarbe stieg aus und wartete. Er war mit einem leichten Leinenjackett bekleidet und spielte ungeduldig mit dem Wagenschlüssel. Endlich öffnete sich die Beifahrertür und seine Frau setzte vorsichtig die Füße auf den Kiesboden, um sich die hochhackigen Schuhe nicht zu beschmutzen. Der Mann drehte den Schlüssel herum, und die Zentralverriegelung ließ alle Schlösser gleichzeitig zuschnappen. Mit schweren Schritten ging er um den Wagen herum und bot seiner Frau den Arm.

Schweigend betraten sie das Restaurant. Herr Schmidt blickte auf seine Armbanduhr und wandte sich dann an seine Frau: Warte hier, bis der Kellner kommt. Ich gehe mir nur rasch die Hände waschen. Frau Schmidt zog die Augenbrauen zusammen, wartete aber dann mit scheinbar gleichgültigem Gesichtsausdruck in der Eingangshalle.

Endlich kam der Kellner und führte sie zu einem der Tische. Frau Schmidt zögerte einen Moment und wählte dann den Platz mit dem Rücken zum Kamin. Auf dem Tisch standen Kerzen und rosafarbene Servietten waren in einem fächerförmigen Halbkreis vor schimmernden Porzellantellern aufgerichtet. Herr Schmidt kam von der Toilette zurück, schob geräuschvoll seinen Stuhl nach hinten und setzte sich. Ständig drehte er den Kopf und blickte über seine Schulter, bis der Kellner kam und die Speisekarten brachte.

Frau Schmidt besah sich gelangweilt das Büttenpapier mit der geschwungenen Handschrift. Sie hatte keinen Hunger und schon gar keinen Appetit. Ich glaube, ich esse nur einen Salat, sagte sie und sah ihren Mann an. Dieser hatte die Karte ausführlich studiert. Er hatte den Kopf hin- und hergewiegt und war sich mit der Zunge über die Lippen gefahren. Nun blickte er erstaunt auf. Glaubst du, ich reserviere extra einen Tisch, um dann nur eine Vorspeise zu bestellen? Frau Schmidt sah zum Fenster hinaus. Du kannst doch essen, was du möchtest, aber ich habe keinen Hunger. Herr Schmidt zog die Augenbrauen hoch. Ich lade dich in ein vornehmes Restaurant ein, in dem man schwer einen Platz bekommt und du hast keinen Hunger? Komm, tu mir den Gefallen, such dir etwas Vernünftiges aus.
Wir waren doch gestern erst essen. Ich mag wirklich nichts.
Was du nicht magst, kannst du ja stehen lassen.
Frau Schmidt nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Ihr Mann hatte seinen Blick bereits wieder in die Karte versenkt.

Der Kellner kam und fragte, ob sie schon gewählt hätten. Noch einen Moment, sagte Herr Schmidt, ohne aufzublicken. Auch seine Frau blickte jetzt wieder in die Karte. Das Kaminfeuer knackte und ein Holzscheit fiel krachend gegen das Gitter. Der Kellner kam mit Block und Bleistift, um die Bestellungen aufzunehmen. Sie müssen mehr Holz auflegen, das Feuer geht sonst gleich aus, sagte Herr Schmidt und blickte den Kellner auffordernd an. Dieser steckte den Stift ein, nahm seinen Block unter den Arm und ging ans Feuer. Vorsichtig schob er das heruntergefallene Holzscheit zurück und legte drei neue Scheite auf. Dann ging er zurück an den Tisch. Zu trinken möchten wir eine Flasche St. Emilian. Als Vorspeise nehme ich die Shrimps in Weißweinsud und meine Frau einen Salat mit Walnüssen. Danach für mich ein Filetsteak, blutig. Und du Liebes? Er sah sie erwartungsvoll an. Für mich ein Lammkotelett Provencal.

Der Kellner bedankte sich, nahm die Karten und ging an den Nebentisch. Dort hatte ein junges Paar platz genommen. Herr Schmidt beobachtete wie sich die jungen Leute nach den Spezialitäten des Hauses erkundigten, die nicht auf der Karte verzeichnet waren. Nachdem der Kellner alles notiert hatte, begannen sie sich wieder zu unterhalten. Herr Schmidt konnte nur wenige Worte von dem, was sie sagten verstehen. Sie sprachen eine andere Sprache, voller weicher, warmer Laute, die Herr Schmidt als italienisch identifizierte.

Frau Schmidt konnte überhaupt nichts verstehen, bemerkte aber, daß das Paar sehr vergnügt war. Sie blickte aus dem Fenster in die Dunkelheit, die sich über die Landschaft senkte. Herr Schmidt sah in das Feuer und schnappte einige Worte der jungen Leute auf. Offenbar waren sie auch Touristen und erst seit einigen Tagen in der Gegend. Das junge Mädchen hatte glänzendes, dunkles Haar und braune Augen. Ihr Begleiter war blond und hatte eine helle Haut. Aus dem kurzen Dialog, den das Mädchen mit dem Kellner geführt hatte, entnahm Herr Schmidt, daß sie auch englisch verstand. Er wartete, bis sie zu ihm herüberblickte und fragte, was sie sich bis jetzt angesehen hätten, und das Mädchen antwortete. Er fragte dann weiter, wo sie untergebracht seien. Sie erzählte freimütig, daß sie eine kleine Blockhütte gegenüber am Highway gemietet hätten. Herr Schmidt schwärmte von einigen Hotels in der Gegend und empfahl sie wärmstens. Diese Häuser wären für die jungen Leute natürlich nie in Betracht gekommen. Frau Schmidt hörte dem Gespräch zu und bekam eine leichte Gänsehaut. Ihr Mund war schmal und farblos und ihre wasserblauen Augen blickten ins Leere. Die schlanken Finger, die lange lachsfarbene Nägel, trugen spielten mit der aufgestellten Serviette. So beginnt es jeden Abend, dachte sie, als der Kellner mit den Vorspeisen kam.

Zuerst stellte er Frau Schmidt den Salat hin, dann Herrn Schmidt die Shrimps. Könnte ich ein wenig Pfeffer bekommen, fragte Herr Schmidt mit lauter Stimme und sah den Kellner an. Der hatte sich bereits umgewandt und brachte eine große hölzerne Pfeffermühle.

Herr Schmidt drehte die Mühle und die zermahlenen schwarzen Krümel fielen auf seinen Teller. Danach breitete er seine Serviette über den Schoß und begann zu essen. Frau Schmidt hob die Gabel und spießte ein Salatblatt auf. Herr Schmidt blickte wieder zum Nebentisch. Das Essen hier ist wunderbar, nicht wahr. Ja, sehr gut, erwiderte das Mädchen und löffelte ihre Suppe. Frau Schmidt lächelte und sagte: Es ist wirklich delikat. Ihr Mann blickte kurz auf: Ich freue mich, daß es dir trotzdem schmeckt. Alle schwiegen eine Weile und kauten. Bald brachte der Kellner die Hauptspeisen.

Herr Schmidt nahm das Gespräch wieder auf und fragte: Bleiben sie länger hier in der Gegend? Noch ungefähr drei Tage. Das ist natürlich sehr kurz. Aber wenn sie schon hier sind, müssen sie sich unbedingt die Wasserfälle ansehen. Sie sind großartig. Frau Schmidt blickte auf und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. Wir werden sehen, ob wir das noch schaffen, sagte das Mädchen. Es gibt ja soviel zu sehen. Frau Schmidt fing den Blick des Mädchens auf und seufzte.

Dafür müssen sie sich unbedingt Zeit nehmen, wer die Wasserfälle nicht gesehen hat, hat das Land nicht gesehen, entschied Herr Schmidt als er ein Stück des blutigen Steaks zermahlen und hinuntergeschluckt hatte. Das Mächen wandte den Blick ab und begann sich wieder in der fremden Sprache mit ihrem Freund zu unterhalten. Herr Schmidt biß sich auf die Lippen und legte sein Besteck nieder. Das Essen seiner Frau war fast unberührt und längst kalt geworden. Das kalte Lammfleisch strömte einen tranigen Geruch aus.

Jetzt beobachtete Frau Schmidt die jungen Leute am Nebentisch. Sie hatten mit Genuß gegessen und bestellten bereits ein Dessert. Es fiel kein weiteres Wort und Herr Schmidt rief den Kellner, um zu bezahlen. Er klappte ein rotes Kunstlederbüchlein auf und legte eine goldschimmernde Plastikkarte hinein. Der Kellner nahm das Büchlein und kam nach kurzer Zeit wieder. Herr Schmidt unterzeichnete ein kleines, dünnes Papier und steckte die Kopie in seine Brieftasche. Danach erhob er sich und ging hinaus. Frau Schmidt legte ihr Halstuch um, nahm ihre Handtasche und sagte beim Hinausgehen "Auf Wiedersehen" zu den jungen Leuten.

Draußen hatte Herr Schmidt bereits den Motor angelassen und sie fuhren los. Der Nachthimmel war bedeckt, als ob sich das Wetter ändern wollte. Man sah keine Sterne. Sie parkten auf dem Hotelparkplatz und stiegen aus. Herr Schmidt ging zur Rezeption und holte den Zimmerschlüssel. Der Lift brachte beide nach oben. Im Hotelzimmer ging Herr Schmidt auf eines der beiden Kingsize-Betten zu, nahm die goldgestreifte Tagesdecke herunter und begann seine Schnürsenkel zu lösen.

Frau Schmidt ging ins Bad. Sie band sich das Haar zurück und schminkte sich ab. Danach trug sie eine hellblaue Nachtcreme auf, nur die empfindlichen Augen sparte sie aus. Nachdem sie sich die Hände gewaschen hatte, streifte sie das Band ab und zog ihr Nachthemd, das an der Tür hing, an. Bist du fertig?, fragte Herr Schmidt, der inzwischen im Bett lag und den Wirtschaftsteil studierte. Er legte die Zeitung weg und hielt die Hand an den Lichtschalter. Ich komme, antwortete sie und das Licht ging aus.

Unter der Bettdecke begannen die Hände von Herrn Schmidt zu wandern. Sie streiften ihr Nachthemd nach oben. Sie sagte nichts. Sein Körper legte sich auf sie und begann sich langsam, aber rhythmisch zu bewegen. Er war sehr schwer.

Frau Schmidt stöhnte ein wenig und atmete den starken Knoblauchdunst, der von oben kam ein. Ihr war sehr heiß und das hochgeschobene Nachthemd drückte sie im Rücken. Sie stöhnte jetzt ohne Pause und ein wenig lauter. Herr Schmidt schnaufte, stöhnte kurz und blieb einen Moment völlig regungslos liegen. Danach rollte er auf seine Seite des Bettes. Schlaf gut Liebling, ich bin sehr müde.

Sie sagte nichts und wartete bis sie die tiefen gleichmäßigen Atemzüge ihres Mannes vernahm. Danach erhob sie sich sachte und ging hinüber zum unberührten Nachbarbett. Sie schaltete die kleine rosa Nachttischlampe an und schlug die Tagesdecke zurück. Vorsichtig zog sie die Nachttischschublade auf und nahm einen Kriminalroman heraus. Sie rückte sich beide Kissen am Kopfende des Bettes zurecht und legte sich auf das Bett. An der mit einem Eselsohr markierten Stelle schlug sie ihr Buch auf und begann zu lesen.

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