Streifzüge

Dienstag, 4. Oktober 2011

Vergessene Stadtvillen, verwaiste Tankstellen und eine entjungferte Eisdiele

Ich lasse die Zwiebelkuppel und das schlanke, weiße Minarett hinter mir. Nach einem Interviewtermin am Ortseingang von Bieber, beschließe ich von dort aus in die Stadt zurückzuwandern. Immer die Bieberer lang. An der alten Matofabrik geht es los.

Ich kenne diesen Weg. Vor vielen Jahren bin ich ihn oft gelaufen. Wenn ich Mathe gelernt hatte, mit meiner Freundin Bille, die mit ihren Eltern in einer Alten Schuhfabrik an der Bieberer wohnte. Wir gingen damals aufs Abendgymnasium in der Geleitsstraße und machten uns immer zwischen vier und fünf auf den Weg in die Stadt. Die Nachmittage bei Bille waren meine späte Hippiezeit. Wir saßen auf der Terrasse der Fabrik, tranken Tee aus Tontassen und Bille drehte die elegantesten Joints, die ich im Leben geraucht habe, und bevor ich sie kannte, hatte ich nie einen geraucht.

Ich überquere die große Kreuzung an der Rhönstraße stadteinwärts. An dieser Stelle ist die Bieberer fast noch Autobahn. Viel zu breit für die schönen, villenartige Stadthäuser zu beiden Seiten. Schon damals, als ich mit Bille hier lang lief, und wir aus heutiger Sicht beneidenswert jung waren, fielen uns diese schönen Häuser auf. Ich komme mir wie in einem Zeitraffer vor, an diesem sonnigen Nachmittag. Was ist anders? Nur ich? Oder sogar nicht einmal ich?

Es tut mir immer noch weh, wie hier die Autos vorbeirauschen und die Stadtvillen immer schwärzer und schwärzer machen. Ihre Schönheit konnte sie nicht schützen, vor der modernen Stadtplanung. Eines von ihnen, nah der Landgrafenstraße, scheint etwas vernachlässigt, vielleicht verlassen und deshalb von einem besonderen Zauber umgeben – als wäre es gar nicht von dieser Welt.

Haus-des-Wachtmeisters-Slama

Darauf weißt schon der morsche, gänzlich bemooste Bretterzaun entlang eines riesigen Gartens hin. Immer mal wieder fehlt eine Latte und ich kann einen Blick erhaschen auf alte Obstbäume. Das Haus ist aus rostroten Klinkersteinen gemauert und zum Garten hin erhebt sich ein verspielter Spitzgiebel mit Schieferdach und großem Balkon darunter. Hier könnte man wunderschön frühstücken – mit Bille zum Beispiel, aber die ist längst weggezogen.

Mit seinen Metallspitzen an Dach und Giebeln sieht es aus wie ein Landhaus irgendwo im Osten. Es ist so ein Haus, wie aus einem Roman von Joseph Roth, den wir damals in Deutsch lasen. Das Haus des Wachtmeisters Slama in Mährisch Weißkirchen zum Beispiel, dessen schöne Frau den jungen Protagonisten des Radetzkymarschs ins Wanken brachte. Dort hat es natürlich nicht an einer großen Straße gestanden, sondern eher am Ende eines vergessenen Ortes. Der Eingang des Hauses sieht etwas neuer aus. Die Tür scheint irgendwann erneuert, Namensschilder sind lesbar. Der Name Slama ist nicht darunter. Gerade als ich ein Foto mache, ist ein Geräusch zu hören. Ich beschleunige meinen Schritt.

Ein Stück weiter auf der linken Seite leuchtet blütenweiß eine verwaiste Tankstelle, in der typischen Architektur der sechziger Jahre, mit einem schönen halbrunden Dach. Vielleicht gehört sie niemandem. Jedenfalls gibt es kein Zeichen einer menschlichen Besiedelung. Ich wundere mich, dass sie trotzdem stehengeblieben ist, wie das Wahrzeichen einer verblühten Ära in nahezu Hopperscher Manier. In diesem Sinne könnte ich diese Tankstelle eine Weile beleben, sie zum Sinnbild menschlicher Verlorenheit in einer anonymen Großstadtkulisse machen.

Tankstelle

Doch vor mir, Richtung Bahnüberführung, lockt schon ein anderes Bild. Im Blau des Herbsttages überwältigt es mich fast – das könnte Berlin sein oder gar New York. Beschreibungen des Viertels um die Brooklyn Bridge von Henry Miller kommen mir in den Sinn beim Anblick der Eisenbrücke mit ihren winkligen Streben. Dahinter buchstäblich aufgetürmt, eine scharfes Übereinander von Schön und Hässlich: Schwarze Stromleitungen im Knäuel, die üppigen ockerfarbenen Rundungen der Marienkirche, stahlblau und unnahbar glitzernd, der Citytower. So etwas zwingt zum Hinsehen. Zum Hinsehen und zu einem Gedanken darüber, welche Zeiten diese Stadt durchlebt hat.

Unter der Brücke ein Stück Niemandsland. Keine Menschenseele, nur ein kleiner grauer Bauwagen und ein rotblaues Verkehrsschild. Eine Kulisse für ein Leben, das in Hoffnungslosigkeit beginnt. In einer Hoffnungslosigkeit, die keine Erwartungen weckt und einen Menschen deshalb mit Dankbarkeit ausstattet und mit einem Optimismus, der für ein ganzes Leben reicht. Vielleicht sind deshalb die Menschen hier von einer gewissen Unbekümmertheit – und Stolz.

Brooklyn-Bridge

So wie der Wirt des Tri Am, eines kleinen Lokals gleich rechter Hand. Ein Vietnamese und Offenbacher Original zugleich, mit langem, dünnen Bart und strengem Blick. Er schreibt seine Speisekarten selbst. Kleine kalligraphische Kunstwerke. Seine Empfehlungen dulden kein Widerwort und sind immer gut. Mit dem Tri Am wird die Bieberer zu einer kleinen kulinarischen Abenteuermeile, die Mut erfordert, aber auch die Neugier weckt. Schräg gegenüber in der Bismarckstraße ist ein neues italienisches Lokal eingezogen: Il Pistacchio. Hier serviert man selbstgemachte Pasta. Etwas weiter kommt ein weißes Schlösschen, das Monte Christo, heute ein russisches Lokal. Früher hieß es Lucullus und war ein gehobenes Restaurant. Hierhin wurde Bille von unserem Bibliothekar ausgeführt – und ich ging als Anstandsdame mit.

Weiter stadteinwärts über den Mathildenplatz mit der Marienkirche, die als einzige in der Stadt wie eine Kirche aussieht. Links ein indisches Lädchen mit wahnsinnig guten Mangos. Die Präsentation der Waren ist sehr indisch, ein kleines wohlgeordnetes Chaos: Ein Turm Kichererbsendosen halten die Tür auf. Rechts im Schaufenster eine Gemüseregal mit strubbeligen Bittergurken und Okraschoten. Links die Theke mit rosaroten und giftgrünen Süßigkeiten. Im Hinterzimmer säckeweise Reis. Es duftet nach Räucherstäbchen, Mangos und Curry.

Schräg gegenüber befindet sich ein nahezu heiliger Ort: Das ehemalige Cortina Eiscafé – heute San Carlo und eine eher zwielichtige italienische Spelunke. Mit seinem obszön fetten Schriftzug des Namens und den abgeklebten Fenstern, scheint der Ort auf eine brutale Art seiner einstigen Jungfräulichkeit beraubt. Das Cortina war ein Ort der Sehnsucht. Es bedeutete Sommer und Schule schwänzen oder Hitzefrei. Hier machte ich mit Bille vor dem Beginn der Abendschule Station. Und oft stieß Yvonne zu uns. Wir bestellten Milchmix Himbeer oder Nuss oder Orange. Eisbecher konnten wir uns nicht leisten. An einem besonders heißen Tag saßen wir vor der schönen Fototapete mit den drei Zinnen, ganz hinten im Café, wo sich die Tür zum Klo befand. Bille hatte am Vorabend ein Briefchen zugesteckt bekommen, von Klaus. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Denn da half keine Logik, wie in Mathe. Yvonne und ich schoben uns die Antwort hin und her, schrieben abwechselnd einen Satz, zwischen Nähe und Schüchternheit, Raffinesse und Naivität. Gerade war ich dran, da kam unsere Lieblingskellnerin mit ihrem kleinen ovalen Tablett und drei hohen Gläsern. Sie versuchte etwas von dem Geschriebenen zu erhaschen und ich versuchte es mit einer schnellen Handbewegung zu verbergen. Das kleine ovale Tablett kam ins Wanken, die Gläser ins Schleudern und in einem weißen Schwall ergossen sich die Milchmixe über den Tisch, unsere Briefchen und flossen genau in meine Richtung, an der Kante des Tisches hinab in meine Schultasche aus hellem Leinenstoff. Wir sprangen auf. Die Bedienung setzte das Tablett ab, lief nach Handtüchern und ich stülpte in Windeseile den Inhalt meiner Schultasche auf einen der Nachbartische, um wenigstens die Bücher zu retten. Wir tupften und wischten bis der Schaden einigermaßen behoben war. Die Lieblingsbedienung brachte uns weitere Milchmixe – aber den Geruch von saurer Milch mit einem Anflug Himbeere bekam ich aus meiner Schultasche nie wieder ganz heraus.

Jahre später endet mein Stadtspaziergang im Tafelspitz, besser gesagt draußen auf der schönen Terrasse am Wilhelmsplatz. Die Sonne scheint auch heute und der Platz mit seinen hübschen Häusern und den vielen Cafés prangt und blitzt. Ich bestelle einen Topfenstrudel mit Zwetschgen und fühle mich nicht mehr wie unter der Brooklyn Bridge, sondern fasst ein bisschen wie in einem Stadtgarten im Ersten Wiener Bezirk. Und das ist vielleicht der Grund, warum ich nie weggegangen bin: In dieser Stadt gibt es ein Stückchen von allem.

Dienstag, 16. August 2011

Bahnhof, Balkangrill und Barbiepuppentorten

Und da wandere ich wieder. Im Buchrainweg geht es los, die Darmstädter runter Richtung Bahnhof. Spätestens in der Marienstraße verlasse ich das Idyll der westlichen Stadt und nähere mich dem Bahndamm, der die Stadt teilt. Eine graue Mauer führt daran entlang, durchbrochen von feuchtfleckigen Tunneln ins Zentrum. Aus dem Augenwinkel sehe ich ein Glitzern silbrig, grün und rot. Da hat jemand versucht, etwas Schönheit zu verbreiten. Ich wechsle die Straßenseite, um das genauer zu sehen. Bilder aus Fliesen à la Gaudí. Wirklich liebevoll gemacht. Besonders die kleinen blauen Eulen mit den gelben Kaffeetassenaugen. Leider muss ich Hundehaufen ausweichen, Pappkartons und Flaschen. Was die Leute so liegenlassen an Orten, die nicht eben schön sind.

Es ist nicht leicht, diese Stadt zu lieben. Es ist ein bisschen so, wie mit einer kleinen Schwester, die mitten in der Pubertät steckt und nichts an ihr will recht zusammen¬passen. Die Nase zu klein, der Mund zu groß, die Beine zu lang. Und trotzdem weiß man, auch dieses Mädchen hat Sehnsüchte – auch dieses Mädchen will vor allem schön sein.

Ich durchquere die Unter¬führung und wende mich Richtung Bahnhof, vorbei an diesem längst vergessenen kleinen Biergarten. Im Zaun fehlen Latten und obendrauf gab es mal eine Verzierung aus Holz, von der noch ein einziges Teil zeugt. Hinter dem Biergarten befindet sich ein schöner, hoher Raum. Er wird wieder genutzt, manchmal jedenfalls – als Ausstellungsraum der Hochschule für Gestaltung.

Früher war dort die Bahnhofsgaststätte. Dort habe ich Russische Eier gegessen, mit Mayonnaise und deutschem Kaviar - salzige schwarze Kügelchen, die lustig knackten, wenn man darauf biss. Ansonsten waren diese Essen immer ein bisschen traurig, weil wir dann meine Großeltern zum Zug brachten. Russische Eier – das hieß Abschied.

Der Bahnhof selbst sieht heute etwas verlebt aus. Man merkt ihm sein Alter an und die Nichtbeachtung, seit der ICE vorbeirauscht. Dabei fällt der Bau mit seiner treppenartigen Fassade sofort ins Auge. Art Déco Reliefs um die Eingangstüren und in der Halle schöne grüne Fliesen, unterbrochen nur von weißen Ladenfronten. Läden, die nun leer stehen. Ich weiß, dass oben auf dem einen Bahnsteig ein kleiner schöner Brunnen mit einem Fabelmotiv steht. Der Rabe und der Fuchs. Der Rabe hat ein Stück Käse im Schnabel und der Fuchs will es haben. Er bittet den Raben, ihm doch etwas vorzusingen, mit seiner schönen Stimme. Man ahnt, was passiert. Mein Opa musste mir die Geschichte hundertmal erzählen - ich liebte es, wenn er den singenden Raben nachmachte - bis der Zug kam.

Bahnhofsbrunnen

Dann die Kaiserstraße runter. Ehemals prachtvolle, große Häuser, in denen sich früher Läden oder Restaurants befanden. Eiscafé Dolomiti. Bestes Bananeneis der Stadt, heute ein „Raucherlokal“. Aber, in den Hinterhöfen tut sich was. Agenturen sind hier eingezogen, ein Kunstverein und ein Modeatelier. Menschen, die auch versuchen, diese Stadt zu lieben.

Rechts in die Geleitsstraße hinein. An der Ecke war früher das San Remo, ein etwas zwielichtiges italienisches Café. Gut, dass es weg ist. Aber gegenüber gab es auch eine nette Studentenkneipe, das Harlekin, in einem sehr niedlichen alten Häuschen, weiß gestrichene Klinker und olivgrüne Jugendstildamen, die den Erker auf ihrem Kopf tragen. Das Harlekin ist weg – stattdessen weist ein großes knallblaues Schild auf einen Balkangrill hin. Die Jugendstildamen geraten daneben in Vergessenheit.

Balkangrill

Ein Stückchen weiter kommt eine türkische Konditorei mit den schrillsten Tortenmotiven, die ich je gesehen habe. Heute entzückt mich die Barbiepuppentorte. Barbie ruht in einem grünweißen Bett aus Marzipanmargeritten. Spätestens dieser Anblick versöhnt mich mit meiner Stadt – und ich bin dankbar für dieses Bunte neben dem Alltäglichen, dieses Andere neben dem Normalen. Wenn ich hier an einem sonnigen Tag runterkomme, kann ich mir einbilden, ich ginge gerade in Palermo spazieren oder in Istanbul. Es riecht sogar so: Ein bisschen nach Döner, ein bisschen nach Zuckerwatte, ein bisschen nach Müll.

Barbiepuppentorten

Dann überquere ich die Waldstraße, kreuze Koffer Roth und Rosenapotheke und höre schon das Leben. Der Wilhelmsplatz mit seinem Markt. Hier treffen alle auf alle, Türken auf Griechen, Italiener auf Vietnamesen, Hessen auf Franken und Offenbacher auf Frankfurter.

Das war früher nicht so. Als ich die nahegelegene Wilhelmschule besuchte, liebte ich auch schon die Markttage. Mit meinen Freundinnen kaufte ich eine Dampfnudel beim Bäcker und einen giftgrünen Apfel beim Obststand. Es gab nämlich einen stillschweigenden Wettbewerb darum, wer den sauersten Apfel essen konnte. Und dann war da noch die Attraktion des Fischwagens, wo lebendige Aale erschlagen wurden, was wir gleichzeitig fasziniert und angewidert beobachteten.

Aber alles in allem war es viel weniger bunt. Ich malte damals in der Schule ein Bild von diesem Markt – es ist eine Tuschezeichnung in Schwarzweiß.

Freitag, 26. November 2010

Geschmackserlebnisse in Little Italy

Der Dienstag Morgen war nicht schön. Er war diesig und kalt, aber wenigstens regnete es nicht. Das genügte mir für meinen kleinen Ausflug. Ich hatte mich für eine ganze besondere Stadtführung in meiner eigenen Heimatstadt angemeldet. "Esskultour" nannte sie sich und sie wird von Loimi Brautmann, der an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach studiert, organisiert.

Um zehn Uhr trafen wir uns im Salzgässchen und begannen unseren Spaziergang in unbekanntes Terrain. Denn obwohl ich mich nach all den Jahren gut auskenne, meide ich doch bestimmte Ecken oder Gässchen, weil sie mir uninteressant oder finster scheinen oder weil sie einfach nicht zu meinen ausgetretenen Pfaden gehören.

Die Route führte uns zunächst in die Kantine des Rathauses. Als Gourmet-Tempel nicht so interessant, aber eine Möglichkeit, um sich aus dem fünfzehnten Stock einen Überblick über die Stadtarchitektur zu machen. Ein wenig erschreckend. Danach ging es zu einer kleinen Moschee in der Glockengasse. Sie befindet sich versteckt in einem Höfchen und daneben gibt es ein kleines Restaurant - ein Treffpunkt der türkischen Gemeinde. Dort bekamen wir warme türkische Pizza und ein Glas Tee. Mein Frühstück für diesen Tag.

Nach einem Besuch in der gegenüberliegenden Bäckerei, wo wir frische Sesamkringel holten, ging es weiter. Ziel war ein kleiner indischer Laden in der Bieberer Straße, den ich zwar schon kannte, der aber wegen der köstlichen Samosas immer einen Besuch lohnt. Außerdem ist es so schön indisch dort. Es riecht nach Räucherstäbchen und Curry und ich mag die Betreiberin, eine ältere Dame mit weiß meliertem Haar und runder Brille. Sie lächelt und man versteht sich ohne Worte.

Die nächste Station lag in einer schäbigen Hofeinfahrt und ich kannte sie nur aus Erzählungen. Es handelte sich um die Mozzarella Käserei L'Abbate, die sich dort in einem weißen Hinterhaus befindet. Einziger Hinweis: die italienische Flagge. Und hier, so ungefähr zwischen Friedrich- und Karlstraße liegt ein sehr winziges Little Italy. Zugegeben kann man Offenbach nicht mit New York vergleichen. Aber, diese paar Sträßchen haben etwas vom abgewetzten Charme der großen Schwester und auch etwas von ihrer Verruchtheit. Zwischen zwielichtigen Spielotheken und Kitschläden gibt es ein paar sehr gute kleine Lebensmittelgeschäfte, die den Weg lohnen. Also, zurück in die Käserei. Dort bekamen wir Im Duft warmer Odenwaldmilch Mozarella-Spießchen und frisch gekochten Ricotta zu kosten. Ein heimliches Geschmackserlebnis.

Eine Ecke weiter waltet Angelo, der Meister der Wurstmaschine. Keiner versteht es, den Parmaschinken und die Mortadella so hauchdünn zu schneiden wie er - so glaube ich jedenfalls. Die italienische Salsicce werden ebenfalls direkt vor Ort gemacht. Und vor Weihnachten hängt der Himmel im Lädchen voller Panettone.

Angelo

Am liebsten hätte ich noch einen Abstecher in die kleine Pasticceria gegenüber gemacht, weil es dort sicher die kleinen Cannoli gefüllt mit Riccotta Creme gibt, aber das stand wohl nicht auf dem Programm. So habe ich jedoch, einen triftigen Grund wiederzukommen. Denn eines ist sicher, ich werde in Zukunft noch ein paar andere Wege austreten in Offenbach - und Little Italy wird auf jeden Fall dazugehören.

Pasticceria

Die kleine Route endete schließlich stilvoll mit einem Espresso bei dem kleinen roten Kaffeewägelchen auf dem Wochenmarkt und ich kam mir ein bisschen so vor als kehrte ich aus einer unbekannten Stadt zurück, die ein heimliches Dasein führt inmitten des Bekannten.

Sonntag, 15. August 2010

Leipziger Allerlei: Streublümchenmuster

Die Schaufenster der Stadt sind voll mit Dingen, die ich von ihr her kenne, seit ich ein kleines Mädchen war. Das Meißner Streublümchenmuster, die kleinen Tänzerinnen mit Röckchen aus Porzellanspitze, rotgoldene Ringe mit drei kleinen Rubinen in der Mitte. Und in diesen Straßen mit den hohen, alten Häusern, den Jugendstilornamenten, scheint sie plötzlich allgegenwärtig. Streubluemchen

Ich stelle mir das vor. Wie sie hier herumlief. Als junges Mädchen, dunkelblond, dunkelblauäugig, mit wachsender Eleganz, schließlich eine junge Frau. Eine selbständige junge Frau, die mit der "Elektrischen" zur Arbeit fuhr. Zur Arbeit in die Nikolaistraße, in die Kürschnerei Fritz Erler, Haus Nummer achtundzwanzig bis zweiunddreißig.

Als ich vom Bahnhof in die Stadt hineinlaufe und zum ersten Mal daran vorbei, ist gerade eine Führung im Gange. Ich erkenne das Haus an der Weltkugel auf dem Dach und den runden, geschwungenen Gauben. Eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten steht vor dem schön verzierten Torbogen, mit dem ernsthaften Gesicht einer jungen Frau in Sandstein darüber. Frauenkopf

Die Stadtführerin spricht von einem Beispiel besonders gelungener Altstadtsanierung. Sie sagt das mit einem gewissen Stolz, als habe sie selbst etwas dazu beigetragen und ich finde das irgendwie anmaßend. Schließlich war es meine Großmutter, die Allen zum Trotz daran geglaubt hatte, dass die Mauer fallen würde, die Grenze zwischen den beiden Deutschlands irgendwann Vergangenheit sein würde. Viele hielten sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben, ihrem akribischen Sammeln von notwendigen Unterlagen und dem Aufbewahren ihrer Mokkatässchen mit Streublümchenmuster für verschroben. Eines Tages nicht mehr. Eines Tages wollte man diese Papiere einsehen und war froh, dass sie da waren.

Ich warte, bis die Stadtführung zur nächsten Attraktion eilt und blicke in die Fenster im ersten Stock, versuche zu erkennen, was sich jetzt wohl dahinter befinden mag. Es scheinen wieder Büros, die typischen Grünpflanzen, hasenohrengleich, stehen dort hinter Jalusien. Vielleicht saß sie dort links hinter dem Fenster, vor einer schwarzen Triumph und tippte, was der Jungchef ihr diktierte. Den Jungchef hatte sie früh erwähnt. Das war vor dem Krieg, vor dem alles verwüstenden.
Nikolaistrasse

Wie war wohl ihr Arbeitstag? Ob er sich sehr von dem meinigen unterschied? Wohl nicht, will es mir scheinen - außer, dass sie sich diktieren lassen musste, nicht selbst formulieren durfte, was sie schrieb. Was hatte sie wohl an, an solch einem normalen Arbeitstag? Ein Kleid, ein Kostüm? Hatte sie die Haare hochgesteckt oder trug sie sie schon kurz? Ich kenne ihren Blick, kann mich gut an ihn erinnern: ein wenig überrascht mit spitzem Mund, ein Lächeln nur in den Augen, hinter einer Brille, schon damals konnte sie schlecht sehen. Die trug sie natürlich nur im Büro. Sobald sie hinunter auf die Straße ging, kam sie in das Etui aus Krokoleder - ein unverzichtbares Utensil, das auch später noch zu ihr gehörte, wie das Streublümchenmuster.

Ich gehe durch den Torbogen, sehe mir die Metallschilder an, mit den neuen Firmennamen darauf. Viele Anwälte, eine Kommunikationsagentur. Ich könnte hier anfangen, geht es mir durch den Kopf. Im Ladengeschäft unten eine punkige Jeansboutique, mit schwarzem Logo - ein bisschen fehl am Platz. Der Lichthof hinter dem Vorderhaus ist wunderschön, weißblau gefliest, hohe Fenster.

Lichthof

Da müssen früher die Werkstätten gewesen sein, wo die Pelze verarbeitet wurden, zu kostbaren Mänteln, zu kleinen weißen Capes, die man auf dem Weg in die Oper trug, über dem Abendkleid. Wo die Pelze wohl herkamen? Aus Russland, aus Polen? Da schrieb sie vielleicht französische Briefe. Jedenfalls hatte sie den Beruf der Fremdsprachenkorrespondentin erlernt, mit Englisch und Französisch. Ob sie diese Ausbildung schon bei der Firma Erler gemacht hatte? Ich weiß so wenig darüber. Gerne würde ich mit ihr durch diese Stadt gehen und sie all das fragen. Sie würde sich sehr freuen über all die aufgebauten Häuser, die wiederbelebten Cafés, wie das Riquet, das muss hier gleich um die Ecke sein. Ich beschließe, meinen Koffer im Hotel abzustellen und dort hinzugehen.

Riquet

Das Café Riquet wirkt so einen Hauch chinesisch, mit dem Türmchen auf dem Dach, pagodenartig und geschwungen die Giebel. Auch innen sind noch ein paar dieser exotischen Elemente zu finden, in der Holztäfelung mit fremden Vögeln und Äffchen, in der Tapete mit Bambusblattmuster. Ich suche einen Platz in einer Nische, von dem man die Tür gut sehen kann und die Kuchentheke. Einen Platz, den sie selbst gewählt hätte. Bei einer brünetten Bedienung bestelle Kaffee und ein Stück Rhabarberkuchen mit Quark. Ob sie hier ihre Mittagspausen verbracht hat, jedenfalls ab und zu, wenn der Jungchef sie ausführte? Der Jungchef, der ihr bald einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wie das wohl war? Eine solche Geschichte in solch geordneten Zeiten? Und heute? Heute könnte das leicht als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz enden - und dann wäre es das gewesen.

Ich hole mein Notizbuch hervor, damit ich nichts verliere von diesen Eindrücken und Gedanken. Ich stelle mir das vor, wie sie hier saß. Und zwischen einer Mittagspause im Monat Mai, kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag und heute liegt nur ein wenig Zeit.

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