Leipziger Allerlei: Streublümchenmuster
Die Schaufenster der Stadt sind voll mit Dingen, die ich von ihr her kenne, seit ich ein kleines Mädchen war. Das Meißner Streublümchenmuster, die kleinen Tänzerinnen mit Röckchen aus Porzellanspitze, rotgoldene Ringe mit drei kleinen Rubinen in der Mitte. Und in diesen Straßen mit den hohen, alten Häusern, den Jugendstilornamenten, scheint sie plötzlich allgegenwärtig. 
Ich stelle mir das vor. Wie sie hier herumlief. Als junges Mädchen, dunkelblond, dunkelblauäugig, mit wachsender Eleganz, schließlich eine junge Frau. Eine selbständige junge Frau, die mit der "Elektrischen" zur Arbeit fuhr. Zur Arbeit in die Nikolaistraße, in die Kürschnerei Fritz Erler, Haus Nummer achtundzwanzig bis zweiunddreißig.
Als ich vom Bahnhof in die Stadt hineinlaufe und zum ersten Mal daran vorbei, ist gerade eine Führung im Gange. Ich erkenne das Haus an der Weltkugel auf dem Dach und den runden, geschwungenen Gauben. Eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten steht vor dem schön verzierten Torbogen, mit dem ernsthaften Gesicht einer jungen Frau in Sandstein darüber.
Die Stadtführerin spricht von einem Beispiel besonders gelungener Altstadtsanierung. Sie sagt das mit einem gewissen Stolz, als habe sie selbst etwas dazu beigetragen und ich finde das irgendwie anmaßend. Schließlich war es meine Großmutter, die Allen zum Trotz daran geglaubt hatte, dass die Mauer fallen würde, die Grenze zwischen den beiden Deutschlands irgendwann Vergangenheit sein würde. Viele hielten sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben, ihrem akribischen Sammeln von notwendigen Unterlagen und dem Aufbewahren ihrer Mokkatässchen mit Streublümchenmuster für verschroben. Eines Tages nicht mehr. Eines Tages wollte man diese Papiere einsehen und war froh, dass sie da waren.
Ich warte, bis die Stadtführung zur nächsten Attraktion eilt und blicke in die Fenster im ersten Stock, versuche zu erkennen, was sich jetzt wohl dahinter befinden mag. Es scheinen wieder Büros, die typischen Grünpflanzen, hasenohrengleich, stehen dort hinter Jalusien. Vielleicht saß sie dort links hinter dem Fenster, vor einer schwarzen Triumph und tippte, was der Jungchef ihr diktierte. Den Jungchef hatte sie früh erwähnt. Das war vor dem Krieg, vor dem alles verwüstenden.

Wie war wohl ihr Arbeitstag? Ob er sich sehr von dem meinigen unterschied? Wohl nicht, will es mir scheinen - außer, dass sie sich diktieren lassen musste, nicht selbst formulieren durfte, was sie schrieb. Was hatte sie wohl an, an solch einem normalen Arbeitstag? Ein Kleid, ein Kostüm? Hatte sie die Haare hochgesteckt oder trug sie sie schon kurz? Ich kenne ihren Blick, kann mich gut an ihn erinnern: ein wenig überrascht mit spitzem Mund, ein Lächeln nur in den Augen, hinter einer Brille, schon damals konnte sie schlecht sehen. Die trug sie natürlich nur im Büro. Sobald sie hinunter auf die Straße ging, kam sie in das Etui aus Krokoleder - ein unverzichtbares Utensil, das auch später noch zu ihr gehörte, wie das Streublümchenmuster.
Ich gehe durch den Torbogen, sehe mir die Metallschilder an, mit den neuen Firmennamen darauf. Viele Anwälte, eine Kommunikationsagentur. Ich könnte hier anfangen, geht es mir durch den Kopf. Im Ladengeschäft unten eine punkige Jeansboutique, mit schwarzem Logo - ein bisschen fehl am Platz. Der Lichthof hinter dem Vorderhaus ist wunderschön, weißblau gefliest, hohe Fenster.

Da müssen früher die Werkstätten gewesen sein, wo die Pelze verarbeitet wurden, zu kostbaren Mänteln, zu kleinen weißen Capes, die man auf dem Weg in die Oper trug, über dem Abendkleid. Wo die Pelze wohl herkamen? Aus Russland, aus Polen? Da schrieb sie vielleicht französische Briefe. Jedenfalls hatte sie den Beruf der Fremdsprachenkorrespondentin erlernt, mit Englisch und Französisch. Ob sie diese Ausbildung schon bei der Firma Erler gemacht hatte? Ich weiß so wenig darüber. Gerne würde ich mit ihr durch diese Stadt gehen und sie all das fragen. Sie würde sich sehr freuen über all die aufgebauten Häuser, die wiederbelebten Cafés, wie das Riquet, das muss hier gleich um die Ecke sein. Ich beschließe, meinen Koffer im Hotel abzustellen und dort hinzugehen.

Das Café Riquet wirkt so einen Hauch chinesisch, mit dem Türmchen auf dem Dach, pagodenartig und geschwungen die Giebel. Auch innen sind noch ein paar dieser exotischen Elemente zu finden, in der Holztäfelung mit fremden Vögeln und Äffchen, in der Tapete mit Bambusblattmuster. Ich suche einen Platz in einer Nische, von dem man die Tür gut sehen kann und die Kuchentheke. Einen Platz, den sie selbst gewählt hätte. Bei einer brünetten Bedienung bestelle Kaffee und ein Stück Rhabarberkuchen mit Quark. Ob sie hier ihre Mittagspausen verbracht hat, jedenfalls ab und zu, wenn der Jungchef sie ausführte? Der Jungchef, der ihr bald einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wie das wohl war? Eine solche Geschichte in solch geordneten Zeiten? Und heute? Heute könnte das leicht als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz enden - und dann wäre es das gewesen.
Ich hole mein Notizbuch hervor, damit ich nichts verliere von diesen Eindrücken und Gedanken. Ich stelle mir das vor, wie sie hier saß. Und zwischen einer Mittagspause im Monat Mai, kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag und heute liegt nur ein wenig Zeit.

Ich stelle mir das vor. Wie sie hier herumlief. Als junges Mädchen, dunkelblond, dunkelblauäugig, mit wachsender Eleganz, schließlich eine junge Frau. Eine selbständige junge Frau, die mit der "Elektrischen" zur Arbeit fuhr. Zur Arbeit in die Nikolaistraße, in die Kürschnerei Fritz Erler, Haus Nummer achtundzwanzig bis zweiunddreißig.
Als ich vom Bahnhof in die Stadt hineinlaufe und zum ersten Mal daran vorbei, ist gerade eine Führung im Gange. Ich erkenne das Haus an der Weltkugel auf dem Dach und den runden, geschwungenen Gauben. Eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten steht vor dem schön verzierten Torbogen, mit dem ernsthaften Gesicht einer jungen Frau in Sandstein darüber.

Die Stadtführerin spricht von einem Beispiel besonders gelungener Altstadtsanierung. Sie sagt das mit einem gewissen Stolz, als habe sie selbst etwas dazu beigetragen und ich finde das irgendwie anmaßend. Schließlich war es meine Großmutter, die Allen zum Trotz daran geglaubt hatte, dass die Mauer fallen würde, die Grenze zwischen den beiden Deutschlands irgendwann Vergangenheit sein würde. Viele hielten sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben, ihrem akribischen Sammeln von notwendigen Unterlagen und dem Aufbewahren ihrer Mokkatässchen mit Streublümchenmuster für verschroben. Eines Tages nicht mehr. Eines Tages wollte man diese Papiere einsehen und war froh, dass sie da waren.
Ich warte, bis die Stadtführung zur nächsten Attraktion eilt und blicke in die Fenster im ersten Stock, versuche zu erkennen, was sich jetzt wohl dahinter befinden mag. Es scheinen wieder Büros, die typischen Grünpflanzen, hasenohrengleich, stehen dort hinter Jalusien. Vielleicht saß sie dort links hinter dem Fenster, vor einer schwarzen Triumph und tippte, was der Jungchef ihr diktierte. Den Jungchef hatte sie früh erwähnt. Das war vor dem Krieg, vor dem alles verwüstenden.

Wie war wohl ihr Arbeitstag? Ob er sich sehr von dem meinigen unterschied? Wohl nicht, will es mir scheinen - außer, dass sie sich diktieren lassen musste, nicht selbst formulieren durfte, was sie schrieb. Was hatte sie wohl an, an solch einem normalen Arbeitstag? Ein Kleid, ein Kostüm? Hatte sie die Haare hochgesteckt oder trug sie sie schon kurz? Ich kenne ihren Blick, kann mich gut an ihn erinnern: ein wenig überrascht mit spitzem Mund, ein Lächeln nur in den Augen, hinter einer Brille, schon damals konnte sie schlecht sehen. Die trug sie natürlich nur im Büro. Sobald sie hinunter auf die Straße ging, kam sie in das Etui aus Krokoleder - ein unverzichtbares Utensil, das auch später noch zu ihr gehörte, wie das Streublümchenmuster.
Ich gehe durch den Torbogen, sehe mir die Metallschilder an, mit den neuen Firmennamen darauf. Viele Anwälte, eine Kommunikationsagentur. Ich könnte hier anfangen, geht es mir durch den Kopf. Im Ladengeschäft unten eine punkige Jeansboutique, mit schwarzem Logo - ein bisschen fehl am Platz. Der Lichthof hinter dem Vorderhaus ist wunderschön, weißblau gefliest, hohe Fenster.

Da müssen früher die Werkstätten gewesen sein, wo die Pelze verarbeitet wurden, zu kostbaren Mänteln, zu kleinen weißen Capes, die man auf dem Weg in die Oper trug, über dem Abendkleid. Wo die Pelze wohl herkamen? Aus Russland, aus Polen? Da schrieb sie vielleicht französische Briefe. Jedenfalls hatte sie den Beruf der Fremdsprachenkorrespondentin erlernt, mit Englisch und Französisch. Ob sie diese Ausbildung schon bei der Firma Erler gemacht hatte? Ich weiß so wenig darüber. Gerne würde ich mit ihr durch diese Stadt gehen und sie all das fragen. Sie würde sich sehr freuen über all die aufgebauten Häuser, die wiederbelebten Cafés, wie das Riquet, das muss hier gleich um die Ecke sein. Ich beschließe, meinen Koffer im Hotel abzustellen und dort hinzugehen.

Das Café Riquet wirkt so einen Hauch chinesisch, mit dem Türmchen auf dem Dach, pagodenartig und geschwungen die Giebel. Auch innen sind noch ein paar dieser exotischen Elemente zu finden, in der Holztäfelung mit fremden Vögeln und Äffchen, in der Tapete mit Bambusblattmuster. Ich suche einen Platz in einer Nische, von dem man die Tür gut sehen kann und die Kuchentheke. Einen Platz, den sie selbst gewählt hätte. Bei einer brünetten Bedienung bestelle Kaffee und ein Stück Rhabarberkuchen mit Quark. Ob sie hier ihre Mittagspausen verbracht hat, jedenfalls ab und zu, wenn der Jungchef sie ausführte? Der Jungchef, der ihr bald einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wie das wohl war? Eine solche Geschichte in solch geordneten Zeiten? Und heute? Heute könnte das leicht als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz enden - und dann wäre es das gewesen.
Ich hole mein Notizbuch hervor, damit ich nichts verliere von diesen Eindrücken und Gedanken. Ich stelle mir das vor, wie sie hier saß. Und zwischen einer Mittagspause im Monat Mai, kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag und heute liegt nur ein wenig Zeit.
Ingrid Walter - 15. August, 14:51