Freitag, 17. Dezember 2010

Ein Ort der viel gesehen hat: Das LUV in Offenbach

Nach dem Besuch im Bürgerbüro (so die moderne Bezeichnung des Einwohnermeldeamtes in Offenbach) sitze ich im Café LUV und verspeise ein Stück Käsekuchen mit Mandarinen, gebacken von der Mutter des Betreibers. Das LUV ist für mich so ein typisches Wintercafé, vielleicht wegen der Einrichtung, die so eine schummerige Stimmung aufkommen lässt. Es ist ein modernes Café, jedoch mit leicht barockem Einschlag - Rocaillemuster an den Wänden in Pistaziengrün.

LUV

Eine schöne alte Holztreppe führt nach oben in den ersten Stock, wo geraucht werden darf.
Darunter lagert heute ein Diwan mit vielen Kissen in pink und grün. Das scheinen überhaupt die Lieblingsfarben des Inhabers zu sein und irgendwie passen zarte Farben und Barock überraschend gut zur Geschichte dieses Ortes.

Dort, unter der geschwungenen Treppe, befand sich in den Siebzigern die Umkleidekabine eines kleinen Miederwarengeschäftes, in dem ich meinen ersten BH erhielt. Dieser BH-Kauf war eine peinliche Angelegenheit. Allein schon, weil er von meiner Mutter angeregt und begleitet wurde. Und, weil man dafür in ein Fachgeschäft gehen musste, das von zwei älteren Damen geführt wurde, die man sich nicht mehr in zarter Wäsche vorstellen wollte.

LUV2

Eine von ihnen bewachte die Kasse, die andere sah in der Kabine nach, ob der BH richtig saß. Da sahen sie mich also an, die alte Dame und meine Mutter, erfahrene Augenpaare und leicht eifersüchtige Augenpaare. Bei mir war dabei so eine Mischung aus Stolz und Scham, Stolz über mein Erwachsensein und Scham über die Körbchengröße A, gegenüber meiner sehr weiblichen Mutter. Dennoch rechnete ich es ihr hoch an, dass sie auf das Aussehen des BHs achtete. Er war aus nahezu verführerisch transparentem Material.

Allein bin ich später nie mehr in den Laden gegangen. Ich entdeckte hingegen bald die große Wäscheabteilung des C & A gegenüber, in der man ungestört alles probieren konnte, sogar Strapse. Der C & A hält allerdings keine Erinnerungen bereit. Er ist in jeder Stadt gleich.

Das kleine Café hingegen ist etwas Besonders. Es besitzt für mich eine besondere Intimität. Ein Ort der viel gesehen hat, viele Frauen reif und einige alt werden. Viele, die sich dort Wäsche für eine ganz bestimmte Gelegenheit, für einen ganz bestimmten Mann geleistet haben.

Gerade erzählt ein Gast von seinem Malheur mit drei platten Reifen, um die er sich nun den ganzen Tag kümmern muss. "Ich vertrödel meine Jugend mit so einem Mist", sagt er und auch diese Aussage passt hierher, denke ich. Meine Jugend, habe ich die etwa auch vertrödelt? Wer weiß das schon? Sie ist einfach so leise vorbeigegangen, scheint mir.

Sotto Voce

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