Donnerstag, 23. Dezember 2010

Come sempre: Das Rosati in Rom

Das Rosati an der Piazza Popolo in Rom ist nicht einfach ein Café, es ist vielmehr eine Institution. Man kennt es heute und man kannte es früher, so zum Beispiel 1941. Deutschland führte Krieg und alle europäischen Großstädte waren voller Flüchtlinge. Politisch anders Gesinnte, Künstler, Juden und welche, die beides waren.

Rosati

Unter ihnen befand sich auch die junge Anja Lundholm, die ich viele Jahre später in Frankfurt als Schriftstellerin und Zeitzeugin kennenlernte, und die mir diese Geschichte aus dem Café Rosati erzählte. Der jungen Schauspielerin aus Berlin war es gelungen, unter dem Vorwand, ihrem Filmteam nachzureisen, in die italienische Hauptstadt zu gelangen.

Nun war sie hier und kannte erst einmal niemanden, denn sie war allein gereist, in ihrer Not - von den neuen Herrschern als "Halbjüdin" klassifiziert, konnte sie in ihrem geliebten Berlin nicht bleiben. Also Rom. Obwohl im unfreiwilligen Exil, war die junge Frau von siebzehn Jahren überwältigt von der Stadt und ihrem Dolce Vita, das immer noch ein bisschen lebendig war. Sie ließ sich treiben von der Grandezza der Straße und entdeckte das Rosati.

Das Café wurde zu ihrem Angelpunkt. Sie ging jeden Nachmittag hin und blieb, bis die Lichter angingen. Denn hier trafen sich die Reisende und Flüchtende aus der ganzen Welt. Vielleicht also eine Möglichkeit, alte Bekanntschaften wiederzutreffen oder neue Bekanntschaften zu machen.

Und tatsächlich. Eines Tages lernte sie einen jungen Mann kennen. Sie kamen ins Gespräch. Er war ebenfalls aus Deutschland geflohen, aber schon vor einem Jahr. Sie fasste Vertrauen und erzählte ihm, dass sie keine gültigen Papiere besaß. Das war für ihn Anlass, sie mitzunehmen zu einer Gruppe Widerständler, die Papiere für Flüchtlinge besorgte und ihnen half aus Deutschland und Europa wegzukommen. Von diesem Tag an gehörte Anja zu ihnen. Sie half so gut sie konnte und man half ihr. Das Rosati hatte sie gerettet, sie war erst einmal unter.

Ich stelle mir also vor, an welchem Tisch sie gesessen hat. An einem, an dem sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregte oder nur gerade soviel, wie eine ganz normale junge Frau. War es Frühling gewesen? Dann saß sie bestimmt draußen hinter den Ligusterbüschen in der Sonne. Gerade der Hölle entkommen, genoss sie dieses unbegreifliche Blau des Himmels und diese unbegreifliche Schönheit der Stadt. Wie konnte es sein, dass alles spurlos an diesem Ort vorübergehen konnte?

Und selbst heute sieht es hier unverändert aus. Das Rosati ist immer noch ein Treffpunkt für Gäste aus aller Welt. Mir gegenüber sitzt eine indische Familie mit ungezogenen Kindern, die nicht sitzen, sondern herumkrabbeln. Aber trotzdem, molto gentile die Kellner, come sempre.

Einer flirtet mit mir, schmilzt dahin, als ich ihn um zwei dieser kleinen Küchlein bitte, con ciocolata. Er wiederholt das Wort, fragt, wo ich herkomme. Germania. Das war damals ein Name für ein schlimmes Land, von wo die Menschen wegrannten. Er lächelt und scheint nichts zu wissen von der Vergangenheit dieses Ortes und nichts von meinen Gedanken. Hier ist zum Glück alles wie immer, come sempre.

Sotto Voce

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