Donnerstag, 20. Januar 2011

Genießen, was gerade ist: Café Korb in Wien

In irgendeinem Mai saß ich abends im Café Korb in Wien und sinnierte über den Satz nach, den mir kurz zuvor ein Freund ans Herz gelegt hatte: "Versuche doch erstmal das zu genießen, was gerade ist." Das ist ein schönes Motto, das man sich durchaus auch an den Anfang eines Jahres stellen kann. Vielleicht ist das besser, als jedes Jahr wieder all den guten Vorsätzen hinterher zu rennen.

Da saß ich also im Café Korb und versuchte, den Augenblick zu genießen. Dass ich hier an einem Tisch sitzen durfte, wie aus der Zeit gekippt. Dass die Sonne hereinschien zu den großen Fenstern und den ganzen Ort so zauberhaft machte. Dass ich noch diese schönen Bilder im Kopf hatte, aus dieser Ausstellung: "Die Sehnsucht nach dem Glück."

Ich ließ meinen Blick durch den Raum gleiten. Er blieb hängen an den schönen Schwarzweißfotos von der Besitzerin, einer Frau mit einem markanten Gesicht, zur Zeit der Aufnahmen noch jung. An den Hasenohren in tomatenroten Töpfen - Hasenohren, so nenne ich diese typischen Zimmerpflanzen aus den sechziger Jahren. Am scharf geschnittenen Kinn einer älteren Dame, die ganz allein und selbstzufrieden an einem Tisch saß und sehr langsam ein Wiener Schnitzel verspeiste. Sie weiß, wie man den Augenblick genießt, dachte ich. Sorgfältig schnitt sie kleine Bissen von ihrem knusprigen Fleisch ab und kaute sie so lange, bis sie auf der Zunge zergingen. Der Geschmack von Butter. Dann eine Gabel mit Kartoffelsalat und dann ein Schluck Bier. Dazwischen eine kleine Pause mit einem Blick aus dem Fenster. Es war leicht gekippt.

Cafe-Korb1

Der Frühling mit seinem Duft von Flieder schwappte herein. Vielleicht würde es ihr letzter sein. Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte sie das schon viele Jahre gedacht. Sie kam jedenfalls regelmäßig hierher, da war ich mir sicher. Vielleicht kam sie früher mit ihrem Mann und noch früher mit ihrem Liebhaber. Sie dachte daran, in jenem Augenblick und fragte sich, wo das ganze Leben hingekommen war. Dann rief sie nach dem Ober und bestellte noch ein Bier: Mit bissel Wasser drin, bittschön.

Sie trug ein schwarz getupftes fünfziger Jahre Kleid zur weißen Steckfrisur. Sie hatte Stil - und ihre Augen verrieten, dass sie ein richtiges Leben gelebt hatte. Eines als Frau und Mutter und Geliebte und Großmutter - doch das war alles lang vorbei.

Auch aus der Zeit gekippt, dachte ich. Keiner wartete mehr auf sie - und deshalb bestellte sie sich noch eine Sachertorte und einen kleinen Schwarzen. Sie tat das alles mit einer großen Selbstsicherheit, einer Selbstsicherheit, die keine Zweifel zuließ an der Richtigkeit ihres Handelns. Wahrscheinlich aß sie hier jeden Freitag Abend ihr Schnitzel, seit vielen Jahren. Und in diesen vielen Jahren hatte sie gelernt, diesen Abend zu genießen, jeden Augenblick davon - und dafür bewunderte ich sie ein wenig.

Ich sah wieder zu dem Schwarzweißfoto hin. Vielleicht war sie das auf dem Bild, schoss es mir durch den Kopf - vielleicht war das ihr Café.

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