Ein bisschen Patina für jeden Tag: Café Westend in Wien

Nikontingelbe Wände, mintfarbene Decken, abgewetzter Samt, höfliche Kellner - Pardon: Ober. Einer hat gerade einen Schrecken bekommen, gedacht, ich sei weg, ohne zu zahlen. Und das hätte er mir nicht zugetraut. Dabei war ich nur auf den Toiletten. Museumsreif, auch diese.

Café Westend

Dennoch, die Leute hier scheren sich nicht um das alte Gelump. Sie beachten es nicht mal, sitzen wie in jedem anderen gewöhnlichen Bahnhofs-Café auf der Welt. Zwei Freundinnen, die sich unterhalten. Ein schönes Gesicht braucht einen Rahmen, sagt die eine, die kein bisschen hübsch ist. Der Café kommt mit einem kleinen Schokotäfelchen, Hänsel und Gretel sind drauf. Das passt ja, denke ich und lasse es in meiner Handtasche verschwinden.

Ich freue mich, wieder hier zu sein, kann gar nicht glauben, dass diese Welt hier, neben meiner immer weiter existiert, jeden Tag da ist. Da schwenkt die große Tür auf und ich sehe sein Haar schimmern. Noch mehr weiße dazwischen? Er schaut, lächelte verhalten, ein wenig ungläubig darüber, dass ich da sitze und ihn offenbar wieder erkenne. Ein Scharfstellen mit den Augen, ein Ranzoomen, ein Auslösen, wie ein Festhalten dieses Augenblicks.

Ich erhebe mich und wir umarmen uns, geben uns diese beiden artigen Küsschen auf die Wangen, die bei ihm immer zu sagen scheinen, mehr ist nicht drin, schließlich bist du verheiratet. An seinem Hals dieser warmwürzige Duft wie Weihnachtsplätzchen.

Wie geht’s dir? Gut, sage ich und meine das sogar. Wenn ich bei ihm bin, fühle ich mich mir selbst näher. Wir mustern uns. Er trägt ein blaugrünes Sakko, ähnlich der Farbe seiner Augen, darunter ein weißes Hemd mit hellgelben Streifen. Beide sehen wir so aus wie immer, scheinbar unverändert, wie dieser ganze Ort hier und ich ertappe mich beklommen bei der Frage, ob es wohl immer so sein wird.

Der Kellner kommt. Magst was Süßes? Schon, oder?
Sachertorte, sage ich, obwohl ich lieber etwas Herzhaftes gehabt hätte.
Er bestellt und die beiden Stücke werden gleich gebracht. Genüsslich schiebt er sich ein Stückchen in den Mund. Er lächelt mich an und sagt, ich hab' nicht soviel Zeit heut'. So bis halb neun.

Schon wieder einteilt in den Terminkalender, denke ich, und das, obwohl ich fast tausend Kilometer hierher gefahren bin. Ich bin kurz davor, mich zu ärgern. Da nimmt er plötzlich meine Hand, drückt sie und sagt, es ist schön, dass du wieder hier bist. Um die Verlegenheit zu überbrücken, schiebe ich mir ein Stückchen Torte in den Mund. Es ist sehr süß und schmilzt unheimlich langsam. Du hast da..., sagt er und wird ein bisschen verlegen. Was denn? Patina, sagt er und lächelt. Wo?, frage ich scheinheilig. Da seitlich. Mir wird plötzlich ganz heiß bei der Antwort, die mir dazu einfällt: Runterküssen, denke ich und schenke ihm einen tiefen Blick.

Ohne ein Wort kommt er plötzlich näher und ich spüre die zarte, von hundert kleinen Fältchen gefurchte Haut seiner Lippen. Der süße Bissen verklebte mir weiter unten den Hals, aber was tut man nicht alles für ein wenig Patina?

Sotto Voce

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Zuletzt aktualisiert: 4. Oktober, 21:05

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