So anders als die Wirklichkeit

Es ist Abend und ich streife wieder durch die Altstadt. Heute möchte ich mich zum ersten Mal in eine der kleinen Bierbars mit den roten Plastik Hockerchen trauen. Eigentlich stehen die Hockerchen vor den Bars auf dem Bürgersteig, wo sich eben alles abspielt. Im Innenraum der Bars, meist schwarzen Löchern, befinden sich nur die glänzenden Bierfässer. Selbst die Gaskocher, um ein paar Kleinigkeiten zuzubereiten, werden auf dem Bürgersteig betrieben.
Hanoi-Bia-Bar

Die kleinen roten Plastikhocker sind begehrt und ich finde nur noch einen einzigen freien Platz neben einem hochgewachsenen Mann, der seine langen Beine etwas steif zu einem eckigen Yogasitz verschlungen hat. Er schaut gar nicht hoch, sondern nur auf die Fotos in seiner Digitalkamera. Mir ist das im ersten Augenblick nur recht und ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche. Er sieht seine Fotos an und ich schreibe ein paar Eindrücke auf, aber nach einer Weile beschreibe ich ihn und die Erinnerung durchfährt mich wie ein kleiner Blitzschlag, lässt meine Haarwurzeln beben. Er ist der Mann vom ersten Abend. Wieder überlege ich, wo ich ihn schon gesehen habe. Der Platz ist eng bemessen und ich kann gar nicht anders, als seine Fotos mitanzusehen, die sehr bemerkenswert sind. Eine junge Vietnamesin im Businesskostüm vor einem Tempel, ein junger Vietnamese mit Besen am Ausgang des Flughafens - die Gesichter offen und wach, die Augen leuchtend. Ich frage mich, ob er vietnamesische Freunde hat. Irgendwann fängt er meinen Blick auf, ernst, fast wild, mit Augen so zwischen Grau und Blau, wie das Meer an einem stürmischen Tag. Ich zucke zusammen, denn im gleichen Augenblick fällt mir auch ein, wo ich ihn schon gesehen habe. In Frankfurt - auf dem vietnamesischen Konsulat.

Gefallen sie ihnen? fragt er und ich nicke verlegen, denn er musste etwas gelesen haben, von meinem Geschriebenen, sonst hätte er mich wohl nicht auf Deutsch angesprochen, so ganz, ohne zu zögern. Aber er scheint sich gar nichts zu denken bei alldem, sondern erzählt mir, wie die Bilder entstanden sind. Erst war es ein Versehen, sagt er. Ich wollte einfach den ersten Blick auf dieses Land festhalten. Das war am Ausgang des Flughafengebäudes. Da stand dieser junge Mann mit dem Besen und kehrte vor den Mülleimern den Dreck weg. Es war mir peinlich und ihm auch, er hatte sofort die Augen niedergeschlagen. Da sprach ich ihn an, um ihm seine Verlegenheit zu nehmen und fragte ihn, ob ich von ihm ein Foto machen dürfte. Er lächelte mich an und sagte ja. Erst wollte er den Besen zur Seite stellen, aber ich sagte nein, er solle genauso aussehen wie immer. Daraufhin stellte er sich mit dem Besen auf und ich machte das erste Bild. Und dann fragte ich immer mehr Leute.

Es sind sehr schöne Bilder, sagte ich. Die Leute sehen irgendwie stolz aus. Ja, sagte der Mann mit den meergrauen Augen. Was werden sie damit machen? fragte ich ihn. Ich weiß noch nicht. Vielleicht eine kleine Ausstellung - nur für Freunde, bei mir im Haus. Eine schöne Idee, sage ich und lächle zum ersten Mal. Und sie schreiben, sagt er und macht eine Bewegung mit dem Kinn zu meinem Heft hin. Ach, nur ein paar Notizen, sage ich. Bilder sehen immer so anders aus als die Wirklichkeit.

Sotto Voce

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