Jahresrückblick mit Henry Miller: Schiffer Café in Frankfurt Sachsenhausen

Heute also der erste Tag dieser seltsamen Zeit "Zwischendenjahren". Besonders bedeutungsschwer erscheinen mir diese Tage stets, vielleicht auch, weil mit dem Jahreswechsel auch immer ein neues Lebensjahr für mich bereit steht. Vielleicht deshalb lege ich diese Tage ein wenig auf die Goldwaage, versuche ihnen eine besondere Bedeutung für die Vergangenheit oder die Zukunft abzuringen.

Der erste Hälfte dieses ersten Tages ging ganz gut. Zuerst ein ausgiebiges Frühstück und ein heißes Bad mit ein paar Sätzen von Henry Miller. Er war auch ein Steinbock, sein Geburtstag jährte sich am 26.12.2010 zum 119. Mal und ich habe es mir seit einigen Jahren zu einem kleinen Endjahresritual gemacht, ein bisschen still mit ihm zu feiern. Ich nehme ein Buch von ihm zur Hand und stöbere ein paar Tage lang, bis zu meinem eigenen Geburtstag im Januar, darin nach schönen Sätzen. Im Wendekreis des Steinbocks fand ich gleich auf der ersten Seite so einen Satz, der meine Revue des vergangenen Jahres vortrefflich zu begleiten schien: "Ich hatte genügend Verstand, flößte aber Mißtrauen ein. Wo immer ich auch hinkam, erregte ich einen Mißklang - nicht weil ich einem Ideal diente, sondern weil ich wie ein Scheinwerfer die Dummheit und Nichtigkeit von allem beleuchtete."

Henry

Das erinnerte mit sehr an meine berufliche Situation im letzten Herbst, manchmal kam ich mir da auch wie so ein Missklang vor oder wie ein böser Scheinwerfer, der Dinge beleuchtete, die keiner wahrhaben wollte

Den Nachmittag beschloss ich für einen Spaziergang zu nutzen - allerdings ganz allein wollte ich dabei nicht sein. Ich nahm mir den "Wendekreis des Steinbocks" mit und beschloss am Main entlang nach Sachsenhausen zu laufen und in irgendeinem Café einzukehren, um meine inspirierte Stimmung noch etwas festzuhalten. Frankfurt ist zwar nicht Paris und Sachsenhausen nicht die Place de Clichy, wo sich Henry Miller gern im Café Wepler niederließ, weil es dort zusätzlich zu Café und Croissant auch noch auch noch gutes Schreibpapier umsonst gab - aber, na gut.

Eingehüllt in Mantel, Schal und Mütze begab ich mich in den Tiefschnee und wanderte tapfer voran. Kurz vor der Gerbermühle beobachtete ich zwei Häschen unter einem kleinen Baum mit unzähligen Vögeln darauf - es gab also auch Leben in dieser Kälte. Das war ermutigend. Am Mainufer konnte ich außerdem eine neue Sportart für Männer beobachten, die sich großer Beliebtheit erfreute. Sie joggten mit einem dreirädrigen Kinderbuggy vorneweg. Das schien zwei Vorteile zu haben: Die Männer, gerade noch so am Rande des Jungseins, blieben sicher in der Spur und der Nachwuchs gewöhnte sich gleich an die Geschwindigkeit des Lebens.

Umso weiter ich nach Sachsenhausen kam, umso voller wurde es, so dass ich mir die Museumscafés lieber verkniff und nach einigem Hin und Her Richtung Schiffercafé lief, wo ich den guten Kaffee der Rösterei Wacker wusste. Auch mit diesem Gedanken war ich heute nicht allein. Alle Plätze waren besetzt, aber ein freundlicher Mann, gerade am Zahlen, überließ mir seinen schönen Platz auf einem roten Lederbänkchen mit dem Rücken zur Wand.

Ich bestellte Espresso und Linzer Torte - die anderen waren weggegessen - und holte den "Wendekreis" und mein Notizbuch heraus. Draußen veränderte sich langsam das Licht, färbte sich ein, die Blaue Stunde rückte heran, die Henry Miller einst beschwor und die heute in der Sprache der Werbung so gern bemüht wird. Dennoch empfand ich heute den besonderen Zauber dieser Tageszeit mit ihrer Geschäftigkeit und Erwartungsfreude vor dem Nachtleben. Bei mir und auch bei den anderen Menschen hier, lag darin vielleicht auch die Erwartungsfreude vor dem neuen Jahr.

Schiffercafe

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