Kaffeehaus

Dienstag, 11. Januar 2011

Warum geht der Mensch ins Kaffeehaus? Oder ein Leben ohne Laumer - undenkbar!

Gleich in der ersten Woche des neuen Jahres stattete ich dem ehrwürdigen Café Laumer einen Besuch ab, denn wer weiß, wie lange man das noch kann, nachdem im letzten Jahr Insolvenz angemeldet werden musste. Es kommt mir vor, als ob viele Leute so denken, denn das Café ist gut besucht und das an einem Montag Abend. Die Besucher wollen diesem Ort, den sie genauso mögen, wie er ist, nämlich ungestylt und ein bisschen in die Jahre gekommen, die Treue halten. Das Café mit seinen graublau bezogenen Bänkchen, der Holztäfelung, die mit Bildern von kunstvollen Torten behängt ist, erscheint nicht nur mir ein Bollwerk gegen die technisierte Welt, die besonders im Westend, nah der Bankentürme, hinter jeder Ecke zu lauern scheint.

Viele der Gäste schauten, so schien mir, ein wenig betroffen drein und ebenso die Bedienungen, die besonders lieb sein wollten und jedem ein Tellerchen mit hausgemachtem Buttergebackenen brachten, so als wollten sie jedem noch einmal den Geschmack von etwas Echtem vor die Lippen führen.

Mich regte diese gewisse Endzeitstimmung zu einigen grundsätzlichen Gedanken über das Kaffeehaus an. Warum fühle ich mich dort so wohl und wie zu Hause? Besser gesagt, zu Hause fühle ich mich eigentlich weniger zu Hause als im Café...

Kaffeehaus

Es kommt wohl daher, dass ich das schon als kleines Mädchen kennengelernt habe, diese warme, wohligduftende Atmosphäre. Meine Großmutter und mein Großvater nahmen mich mit an solche Orte, wenn es in die Stadt ging. So ein Cafébesuch war immer der Höhepunkt eines Stadtbesuches.

Mein Lieblingscafé war in den frühen siebzigern das von uns Kindern so genannte Äffchencafé. Eigentlich hieß es Café Wipra oder Café der Tierfreunde und befand sich in der Neuen Kräme. Dort gab es tatsächlich kleine Äffchen und bunte Fische. Dorthin und auch ins Café Laumer ging ich mit meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie wohnte in Sindlingen bei Frankfurt und ich wurde in Offenbach in die Straßenbahn gesetzt und fuhr bis zum Willy-Brandt-Platz, der damals noch Theaterplatz hieß, wo meine Großmutter wartete. Oft bekam ich bei solchen Ausflügen ein schönes Kleid oder ein Paar neue Stiefel - einmal rote mit weißem Fell, wie kleine Husarenstiefel - und danach ging es eben ins Café. Dort bestellte ich im Winter Schokoladentorte und im Sommer Aprikoseneis.

Mit meinem Großvater väterlicherseits ging ich dagegen meistens ins Café Schulte in Offenbach. Dort wurden die Torten auch selbst gemacht und außerdem stadtbekannte Pralinen. Noch heute ärgere ich mich, dass ich vor dem Abriss des Hauses nicht das gesamte Interieur aufgekauft habe. Das war nämlich möglich. Die Stühle, Tische, Garderobenständer und Blumenväschen aus den Fünfziger Jahren wurden zum Spottpreis verschleudert und stehen heute wohl einzeln in irgendeiner Wohnung oder sind schließlich doch auf dem Müll gelandet.
Soll den blaubezogenen Bänkchen und Tortenbildern aus dem Café Laumer etwa das gleiche Schicksal blühen?

Am Tisch neben mir nimmt eine große, schlanke Frau in schwarzem Pelz Platz. Im Café kann man allein sitzen und ist doch nicht allein, denke ich und ein Zitat von Alfred Polgar kommt mir in den Sinn: "Ins Kaffeehaus gehen Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen."

Man überbrückt Zeit, die man gerade zuviel hat, mit Schmecken und Schnuppern und Staunen, mit Lauschen und Sinnieren. Und Wahrnehmungen dieser Art werden wahrscheinlich immer seltener. Mich regt, wie viele, das Murmeln der Stimmen, diese verhaltene kontinuierliche Melodie zum Schreiben an. Ein paar Worte, eine kleine Szene lösen ein Gedanken aus und vielleicht ist das der Beginn einer neuen Geschichte, die man dann zu Hause weiterspinnen kann, aber eben nur weiterspinnen. Das erste Aufblitzen einer Idee entspringt oft an einem öffentlichen Ort und schön ist es, wenn man ihn dann auch gleich aufschreiben kann, wie im Kaffeehaus.

Montag, 27. Dezember 2010

Jahresrückblick mit Henry Miller: Schiffer Café in Frankfurt Sachsenhausen

Heute also der erste Tag dieser seltsamen Zeit "Zwischendenjahren". Besonders bedeutungsschwer erscheinen mir diese Tage stets, vielleicht auch, weil mit dem Jahreswechsel auch immer ein neues Lebensjahr für mich bereit steht. Vielleicht deshalb lege ich diese Tage ein wenig auf die Goldwaage, versuche ihnen eine besondere Bedeutung für die Vergangenheit oder die Zukunft abzuringen.

Der erste Hälfte dieses ersten Tages ging ganz gut. Zuerst ein ausgiebiges Frühstück und ein heißes Bad mit ein paar Sätzen von Henry Miller. Er war auch ein Steinbock, sein Geburtstag jährte sich am 26.12.2010 zum 119. Mal und ich habe es mir seit einigen Jahren zu einem kleinen Endjahresritual gemacht, ein bisschen still mit ihm zu feiern. Ich nehme ein Buch von ihm zur Hand und stöbere ein paar Tage lang, bis zu meinem eigenen Geburtstag im Januar, darin nach schönen Sätzen. Im Wendekreis des Steinbocks fand ich gleich auf der ersten Seite so einen Satz, der meine Revue des vergangenen Jahres vortrefflich zu begleiten schien: "Ich hatte genügend Verstand, flößte aber Mißtrauen ein. Wo immer ich auch hinkam, erregte ich einen Mißklang - nicht weil ich einem Ideal diente, sondern weil ich wie ein Scheinwerfer die Dummheit und Nichtigkeit von allem beleuchtete."

Henry

Das erinnerte mit sehr an meine berufliche Situation im letzten Herbst, manchmal kam ich mir da auch wie so ein Missklang vor oder wie ein böser Scheinwerfer, der Dinge beleuchtete, die keiner wahrhaben wollte

Den Nachmittag beschloss ich für einen Spaziergang zu nutzen - allerdings ganz allein wollte ich dabei nicht sein. Ich nahm mir den "Wendekreis des Steinbocks" mit und beschloss am Main entlang nach Sachsenhausen zu laufen und in irgendeinem Café einzukehren, um meine inspirierte Stimmung noch etwas festzuhalten. Frankfurt ist zwar nicht Paris und Sachsenhausen nicht die Place de Clichy, wo sich Henry Miller gern im Café Wepler niederließ, weil es dort zusätzlich zu Café und Croissant auch noch auch noch gutes Schreibpapier umsonst gab - aber, na gut.

Eingehüllt in Mantel, Schal und Mütze begab ich mich in den Tiefschnee und wanderte tapfer voran. Kurz vor der Gerbermühle beobachtete ich zwei Häschen unter einem kleinen Baum mit unzähligen Vögeln darauf - es gab also auch Leben in dieser Kälte. Das war ermutigend. Am Mainufer konnte ich außerdem eine neue Sportart für Männer beobachten, die sich großer Beliebtheit erfreute. Sie joggten mit einem dreirädrigen Kinderbuggy vorneweg. Das schien zwei Vorteile zu haben: Die Männer, gerade noch so am Rande des Jungseins, blieben sicher in der Spur und der Nachwuchs gewöhnte sich gleich an die Geschwindigkeit des Lebens.

Umso weiter ich nach Sachsenhausen kam, umso voller wurde es, so dass ich mir die Museumscafés lieber verkniff und nach einigem Hin und Her Richtung Schiffercafé lief, wo ich den guten Kaffee der Rösterei Wacker wusste. Auch mit diesem Gedanken war ich heute nicht allein. Alle Plätze waren besetzt, aber ein freundlicher Mann, gerade am Zahlen, überließ mir seinen schönen Platz auf einem roten Lederbänkchen mit dem Rücken zur Wand.

Ich bestellte Espresso und Linzer Torte - die anderen waren weggegessen - und holte den "Wendekreis" und mein Notizbuch heraus. Draußen veränderte sich langsam das Licht, färbte sich ein, die Blaue Stunde rückte heran, die Henry Miller einst beschwor und die heute in der Sprache der Werbung so gern bemüht wird. Dennoch empfand ich heute den besonderen Zauber dieser Tageszeit mit ihrer Geschäftigkeit und Erwartungsfreude vor dem Nachtleben. Bei mir und auch bei den anderen Menschen hier, lag darin vielleicht auch die Erwartungsfreude vor dem neuen Jahr.

Schiffercafe

Sonntag, 26. Dezember 2010

Romantische Schutzhütte: Café Laumer in Frankfurt

Unter einigen anderen lokalen Meldungen fand ich heute die Nachricht von der Insolvenz des Café Laumer, die mich doch betroffen machte. Denn das traditionsreiche Frankfurter Kaffeehaus war mir in diesem Sommer eine ganz besondere Herberge. Eine Art romantische Schutzhütte vor der Sachlichkeit des modernen Business. Ich schätze die altmodische Atmosphäre, die hier herrscht, den besonders charakteristischen Geruch nach alten Butterplätzchen. Hier tragen die Bedienungen noch kleine, weiße Schürzen, hier versprühen sie noch die sprichwörtlich raue Frankfurter Herzlichkeit.

Laumerschild

Meine Bürozeiten waren angefüllt mit elektronischen Nachrichten auf dem kleinen, weißen Bildschirm meines I-Phones oder auf dem größeren grauen Bildschirm meines Laptops. Nur selten läutete das Telefon. Seit es elektronische Nachrichten gibt, drücken sich die Menschen vor echten Gesprächen.

Das Café Laumer bot die Chance, dieser abstrakten digitalen Welt für eine halbe Stunde gänzlich zu entfliehen. Es war eine Oase der guten alten Zeit und der Beweis dafür, dass sich manche Dinge Gottseidank nicht ändern. Hier war nichts digital. An der Theke musste man warten, bis man drankam - und das konnte dauern. Man musste sich disziplinieren und rasch eine Torte auswählen, für die man ein Nummernzettelchen erhielt. Mit diesem Zettelchen begab man sich an einen freien Tisch und wartete auf die Bedienung im weißen Schürzchen. Diese Bedienungen hatten ein Alter, dass ihrem Berufsstand entsprach, und eine entsprechende Figur, die vom Schürzchen eng zusammengehalten wurde.

Ich wurde dort als "Dame" angesprochen und konnte mich eine halbe Stunde lang so fühlen. Während ich mir in meinem Büro eher wie ein Neutrum vorkam, wie irgendeine gesichtslose Antwortmaschine. Das Laumer war ein Ort, der inspirierte, weil er so gar nicht in die heutige Welt passte. Hier nahm ich regelmäßig mein kleines Notizbuch heraus und schrieb ein paar Gedanken auf - mit der Hand. Damit bremste ich das Karussell in meinem Kopf für eine kleine Weile aus. Beim Anblick der samtbezogenen Bänkchen kamen mir beispielsweise Erinnerungen an meine Großmutter. Wie sie in solchen Cafés nur mit einem Pelzhut saß, wie sie sich die Lippen rot bemalte, die Nase puderte.

Laumerinterieur

Als ich im November zum letzten Mal dort war, feierte ich mein Entkommen aus dem nahegelegenen Büro, mit einem Glas Prosecco und hörte mit Bestürzen, dass der Inhaber gerade gestorben war. Damit kündigte sich bereits die Vergänglichkeit dieser Institution an und man kann nur hoffen, dass neue Betreiber einen Sinn haben für diesen Ort und nicht dem in der Meldung angesprochenen "Renovierungsstau" nachgeben. Denn so wie das Laumer gibt es kaum noch ein Café in Frankfurt. Hier schwebt noch der Geist von Literaturcafé und Caféhausliteratur durch die Räume. So sah ich zum Beispiel einige Male Wilhelm Genazino auf der Terrasse seinen Kaffee trinken.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Come sempre: Das Rosati in Rom

Das Rosati an der Piazza Popolo in Rom ist nicht einfach ein Café, es ist vielmehr eine Institution. Man kennt es heute und man kannte es früher, so zum Beispiel 1941. Deutschland führte Krieg und alle europäischen Großstädte waren voller Flüchtlinge. Politisch anders Gesinnte, Künstler, Juden und welche, die beides waren.

Rosati

Unter ihnen befand sich auch die junge Anja Lundholm, die ich viele Jahre später in Frankfurt als Schriftstellerin und Zeitzeugin kennenlernte, und die mir diese Geschichte aus dem Café Rosati erzählte. Der jungen Schauspielerin aus Berlin war es gelungen, unter dem Vorwand, ihrem Filmteam nachzureisen, in die italienische Hauptstadt zu gelangen.

Nun war sie hier und kannte erst einmal niemanden, denn sie war allein gereist, in ihrer Not - von den neuen Herrschern als "Halbjüdin" klassifiziert, konnte sie in ihrem geliebten Berlin nicht bleiben. Also Rom. Obwohl im unfreiwilligen Exil, war die junge Frau von siebzehn Jahren überwältigt von der Stadt und ihrem Dolce Vita, das immer noch ein bisschen lebendig war. Sie ließ sich treiben von der Grandezza der Straße und entdeckte das Rosati.

Das Café wurde zu ihrem Angelpunkt. Sie ging jeden Nachmittag hin und blieb, bis die Lichter angingen. Denn hier trafen sich die Reisende und Flüchtende aus der ganzen Welt. Vielleicht also eine Möglichkeit, alte Bekanntschaften wiederzutreffen oder neue Bekanntschaften zu machen.

Und tatsächlich. Eines Tages lernte sie einen jungen Mann kennen. Sie kamen ins Gespräch. Er war ebenfalls aus Deutschland geflohen, aber schon vor einem Jahr. Sie fasste Vertrauen und erzählte ihm, dass sie keine gültigen Papiere besaß. Das war für ihn Anlass, sie mitzunehmen zu einer Gruppe Widerständler, die Papiere für Flüchtlinge besorgte und ihnen half aus Deutschland und Europa wegzukommen. Von diesem Tag an gehörte Anja zu ihnen. Sie half so gut sie konnte und man half ihr. Das Rosati hatte sie gerettet, sie war erst einmal unter.

Ich stelle mir also vor, an welchem Tisch sie gesessen hat. An einem, an dem sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregte oder nur gerade soviel, wie eine ganz normale junge Frau. War es Frühling gewesen? Dann saß sie bestimmt draußen hinter den Ligusterbüschen in der Sonne. Gerade der Hölle entkommen, genoss sie dieses unbegreifliche Blau des Himmels und diese unbegreifliche Schönheit der Stadt. Wie konnte es sein, dass alles spurlos an diesem Ort vorübergehen konnte?

Und selbst heute sieht es hier unverändert aus. Das Rosati ist immer noch ein Treffpunkt für Gäste aus aller Welt. Mir gegenüber sitzt eine indische Familie mit ungezogenen Kindern, die nicht sitzen, sondern herumkrabbeln. Aber trotzdem, molto gentile die Kellner, come sempre.

Einer flirtet mit mir, schmilzt dahin, als ich ihn um zwei dieser kleinen Küchlein bitte, con ciocolata. Er wiederholt das Wort, fragt, wo ich herkomme. Germania. Das war damals ein Name für ein schlimmes Land, von wo die Menschen wegrannten. Er lächelt und scheint nichts zu wissen von der Vergangenheit dieses Ortes und nichts von meinen Gedanken. Hier ist zum Glück alles wie immer, come sempre.

Freitag, 17. Dezember 2010

Ein Ort der viel gesehen hat: Das LUV in Offenbach

Nach dem Besuch im Bürgerbüro (so die moderne Bezeichnung des Einwohnermeldeamtes in Offenbach) sitze ich im Café LUV und verspeise ein Stück Käsekuchen mit Mandarinen, gebacken von der Mutter des Betreibers. Das LUV ist für mich so ein typisches Wintercafé, vielleicht wegen der Einrichtung, die so eine schummerige Stimmung aufkommen lässt. Es ist ein modernes Café, jedoch mit leicht barockem Einschlag - Rocaillemuster an den Wänden in Pistaziengrün.

LUV

Eine schöne alte Holztreppe führt nach oben in den ersten Stock, wo geraucht werden darf.
Darunter lagert heute ein Diwan mit vielen Kissen in pink und grün. Das scheinen überhaupt die Lieblingsfarben des Inhabers zu sein und irgendwie passen zarte Farben und Barock überraschend gut zur Geschichte dieses Ortes.

Dort, unter der geschwungenen Treppe, befand sich in den Siebzigern die Umkleidekabine eines kleinen Miederwarengeschäftes, in dem ich meinen ersten BH erhielt. Dieser BH-Kauf war eine peinliche Angelegenheit. Allein schon, weil er von meiner Mutter angeregt und begleitet wurde. Und, weil man dafür in ein Fachgeschäft gehen musste, das von zwei älteren Damen geführt wurde, die man sich nicht mehr in zarter Wäsche vorstellen wollte.

LUV2

Eine von ihnen bewachte die Kasse, die andere sah in der Kabine nach, ob der BH richtig saß. Da sahen sie mich also an, die alte Dame und meine Mutter, erfahrene Augenpaare und leicht eifersüchtige Augenpaare. Bei mir war dabei so eine Mischung aus Stolz und Scham, Stolz über mein Erwachsensein und Scham über die Körbchengröße A, gegenüber meiner sehr weiblichen Mutter. Dennoch rechnete ich es ihr hoch an, dass sie auf das Aussehen des BHs achtete. Er war aus nahezu verführerisch transparentem Material.

Allein bin ich später nie mehr in den Laden gegangen. Ich entdeckte hingegen bald die große Wäscheabteilung des C & A gegenüber, in der man ungestört alles probieren konnte, sogar Strapse. Der C & A hält allerdings keine Erinnerungen bereit. Er ist in jeder Stadt gleich.

Das kleine Café hingegen ist etwas Besonders. Es besitzt für mich eine besondere Intimität. Ein Ort der viel gesehen hat, viele Frauen reif und einige alt werden. Viele, die sich dort Wäsche für eine ganz bestimmte Gelegenheit, für einen ganz bestimmten Mann geleistet haben.

Gerade erzählt ein Gast von seinem Malheur mit drei platten Reifen, um die er sich nun den ganzen Tag kümmern muss. "Ich vertrödel meine Jugend mit so einem Mist", sagt er und auch diese Aussage passt hierher, denke ich. Meine Jugend, habe ich die etwa auch vertrödelt? Wer weiß das schon? Sie ist einfach so leise vorbeigegangen, scheint mir.

Sonntag, 7. März 2010

Ein bisschen Patina für jeden Tag: Café Westend in Wien

Nikontingelbe Wände, mintfarbene Decken, abgewetzter Samt, höfliche Kellner - Pardon: Ober. Einer hat gerade einen Schrecken bekommen, gedacht, ich sei weg, ohne zu zahlen. Und das hätte er mir nicht zugetraut. Dabei war ich nur auf den Toiletten. Museumsreif, auch diese.

Café Westend

Dennoch, die Leute hier scheren sich nicht um das alte Gelump. Sie beachten es nicht mal, sitzen wie in jedem anderen gewöhnlichen Bahnhofs-Café auf der Welt. Zwei Freundinnen, die sich unterhalten. Ein schönes Gesicht braucht einen Rahmen, sagt die eine, die kein bisschen hübsch ist. Der Café kommt mit einem kleinen Schokotäfelchen, Hänsel und Gretel sind drauf. Das passt ja, denke ich und lasse es in meiner Handtasche verschwinden.

Ich freue mich, wieder hier zu sein, kann gar nicht glauben, dass diese Welt hier, neben meiner immer weiter existiert, jeden Tag da ist. Da schwenkt die große Tür auf und ich sehe sein Haar schimmern. Noch mehr weiße dazwischen? Er schaut, lächelte verhalten, ein wenig ungläubig darüber, dass ich da sitze und ihn offenbar wieder erkenne. Ein Scharfstellen mit den Augen, ein Ranzoomen, ein Auslösen, wie ein Festhalten dieses Augenblicks.

Ich erhebe mich und wir umarmen uns, geben uns diese beiden artigen Küsschen auf die Wangen, die bei ihm immer zu sagen scheinen, mehr ist nicht drin, schließlich bist du verheiratet. An seinem Hals dieser warmwürzige Duft wie Weihnachtsplätzchen.

Wie geht’s dir? Gut, sage ich und meine das sogar. Wenn ich bei ihm bin, fühle ich mich mir selbst näher. Wir mustern uns. Er trägt ein blaugrünes Sakko, ähnlich der Farbe seiner Augen, darunter ein weißes Hemd mit hellgelben Streifen. Beide sehen wir so aus wie immer, scheinbar unverändert, wie dieser ganze Ort hier und ich ertappe mich beklommen bei der Frage, ob es wohl immer so sein wird.

Der Kellner kommt. Magst was Süßes? Schon, oder?
Sachertorte, sage ich, obwohl ich lieber etwas Herzhaftes gehabt hätte.
Er bestellt und die beiden Stücke werden gleich gebracht. Genüsslich schiebt er sich ein Stückchen in den Mund. Er lächelt mich an und sagt, ich hab' nicht soviel Zeit heut'. So bis halb neun.

Schon wieder einteilt in den Terminkalender, denke ich, und das, obwohl ich fast tausend Kilometer hierher gefahren bin. Ich bin kurz davor, mich zu ärgern. Da nimmt er plötzlich meine Hand, drückt sie und sagt, es ist schön, dass du wieder hier bist. Um die Verlegenheit zu überbrücken, schiebe ich mir ein Stückchen Torte in den Mund. Es ist sehr süß und schmilzt unheimlich langsam. Du hast da..., sagt er und wird ein bisschen verlegen. Was denn? Patina, sagt er und lächelt. Wo?, frage ich scheinheilig. Da seitlich. Mir wird plötzlich ganz heiß bei der Antwort, die mir dazu einfällt: Runterküssen, denke ich und schenke ihm einen tiefen Blick.

Ohne ein Wort kommt er plötzlich näher und ich spüre die zarte, von hundert kleinen Fältchen gefurchte Haut seiner Lippen. Der süße Bissen verklebte mir weiter unten den Hals, aber was tut man nicht alles für ein wenig Patina?

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