Freitag, 24. September 2010

Überfahrt

An der Kante zu dieser Wasserwelt werden alle ausgespuckt. Aus modernen und abgewrackten Reisebussen, aus kleinen Transportern, aus verwaschen türkisfarbenen Taxis, aus den Beiwagen zerbeulter Mopeds. Unzählige Menschen warten in säuberlich abgeteilten Einzelhäufchen auf ihr Boot, das Zubringerboot zu den berühmten Dschunken mit den rostroten Segeln. Inmitten von Souvenirständen mit Reisstrohhüten und Sonnenbrillen warten sie alle darauf, die Einsamkeit und den Zauber einer unberührten Inselwelt zu erleben. So wie ich auch. Mein eigenes Ansinnen kommt mir seltsam vor, inmitten der vielen Menschen. Und dennoch - dennoch scheint dort hinten im Meer, im milchiggrünen Licht des Nachmittags, etwas auf mich zu warten. Vielleicht nur eine Vorstellung oder eine Traumwelt, aber eine, in die ich wirklich und wahrhaftig eintauchen kann.

Ich stehe bei den drei Holländerinnen. Wir sehen zu den Dschunken hinüber, raten, welche die unsere ist. Sie gestikulieren und lachen, scheinen freudig und aufgeregt. Ganz das Gegenteil die beiden Deutschen. Er doziert ohne Unterlass über die Länge und Breite des Bootes, über Windstärken und die Tiefe des Meeres. Sie blickt an ihm vorbei und lächelt mir leise zu.

Unser junger Guide bedeutet uns, dass wir beisammen bleiben sollen und wendet sich der Anlegestelle zu. Dort im Wasser warten in einer Reihe die Langboote, die uns zu den Dschunken bringen werden. Er redet mit einem der Ruderer, der ein pinkfarbenes Tuch um den Kopf geschlungen trägt. Sie nicken und winken uns, dass wir näher kommen sollen. Das scheint also unser Zubringer zu sein. Wir nehmen unsere Taschen und gehen ans Wasser. Der Guide hilft uns über einen aus alten Latten zusammengezimmerten Holzsteg aufs Boot. Das deutsche Paar nimmt vorne rechts Platz. Ich folge den Holländerinnen nach hinten. Wir grüßen nach rechts und links. Außer uns scheinen nur Pärchen unterwegs.

In der allerletzten Reihe sitzt ein Mann oder er liegt vielmehr, die langen Beine nach vorne weg gestreckt. Er scheint schon länger zu warten und hat gegen die Sonne seinen hellen Reisstrohhut über das Gesicht gezogen. Ich setze mich neben die dunkelhaarige Holländerin, die mir erzählt, dass sie den beiden anderen erst auf dieser Reise begegnet ist.

Wir legen ab und unser Boot gleitet durch den milchiggrünen Nebel, wie durch einen Vorhang. Das Stimmengewirr, das Geknatter, das Geplauder verebbt und dann ist nur noch das plätschernde Eintauchen des langen Ruders zu hören. Wir steuern auf die Dschunke ganz links zu. Sie hat die Segel oben und bewegt sich sanft mit dem Wasser auf und ab. Sie sehen alle gleich aus, gleich schön, variieren nur in der Farbe des Holzes und tragen unterschiedliche Namen. Unsere heißt: Huong Hai Junk.

Huong-Hai-Junk

Das Boot steht und unser Guide steigt über das Vorderdeck auf die Dschunke, um uns hinüber zu helfen. Nun bin ich an der Reihe. Ich reiche dem Guide die Hand, blicke zu ihm und dann noch einmal zurück aufs Boot. Der Mann mit dem Reisstrohhut hat sich als letzter erhoben. Er lächelt mir zu, mit schelmischen, wissenden Augen, nickt leise, wie zum Zeichen, dass ich gehen soll und ich betrete die Dschunke.

Freitag, 10. September 2010

Sehnsuchtslandschaft

Es ist sieben Uhr morgens und ich warte im Foyer auf meine Abholung zur Halong Bucht. Draußen hält ein Kleinbus. Und tatsächlich, ein junger, schmaler Mann kommt herein und spricht mich an, wohl weil ich die einzige Weiße bin. Im Auto sitzen schon ein Pärchen aus Heidelberg und drei Holländerinnen. Zwei sind blond und lederhäutig, die Dritte ist dunkelhaarig und hübsch. Ich grüße und nehme vorne neben dem jungen, schmalen Guide Platz, empfange ein duldsames Lächeln aus sanften, braunen Augen. Wie oft er wohl diese Tour im Jahr macht.

Wir winden uns langsam aus der Altstadt heraus, die Straßen werden gerader und breiter, die Häuser weniger. Aber irgendwie scheint es, als würden wir die Vorstädte Hanois nie so richtig verlassen. Es geht immer weiter durch zersiedelte Gegenden, vorbei an Baustellen und Reisfeldern, vorbei an neochinesischen bunten Häusern auf kleinen Hügeln. Es ist trostlos hier oder sogar hässlich. Irgendwann muss hier einmal Dschungel gewesen sein, undurchdringliches Grün. Jetzt sitzen Menschen zwischen den Schutthalden, wie eh und je in der Hocke, auf dem Kopf spitze Strohhüte und versuchen ihren Reis anzubauen.

Ich kann nicht glauben, dass dieser Weg zu einer der schönsten Landschaften der Welt führt, einer Fels- und Wasserlandschaft, die man aus zig Filmen kennt, die zu einer Sehnsuchtslandschaft für alle geworden ist. Wir halten für einen Toilettengang an einer Werkstätte für Behinderte - es gibt immer noch Opfer des Krieges, verstümmelt vom Gift.

Nach weiteren zwei Stunden durch diese gezeichnete Landschaft kommen wir an die Küste. Von hier aus sieht man sie schemenhaft im Nebel liegen, die Zauberlandschaft der Halong Bucht. Spitze, grün bewachsene Felsen in den seltsamsten Formen - hunderte dieser Inselchen schwimmen im blaugrünen Meer.
Halong-Bucht

Freitag, 27. August 2010

Monsun

Plötzlich fallen mitten aus dem Blauschwarz der Nacht große Wassertropfen auf seine Hände, die immer noch die Kamera halten. Er blickt zum Himmel und beeilt sich, die Kamera in die vorgesehene Tasche zu stecken und ich tue es ihm gleich. Und da prasseln die Tropfen auch schon auf uns hernieder, auf unsere Haut, unser Haar und eine dampfige Hitze steigt vom Boden auf. Wir springen von unseren kleinen Plastikhockern auf und auch alle anderen um uns kommen in Bewegung, laufen, schimpfen. Blitzschnell, noch bevor wir irgendwie reagieren können, springen diese kleinen, sehr behänden Menschen in den engen Schankraum, wo die Bierfässer lagern, sogar aus der Garküche nebenan kommen sie mit ihren Tellern zeternd herbeigerannt und wir schließen uns ihnen an. Wenige Minuten später stehen alle in dem dunklen Raum um die Bierfässer herum.

Der Wirt beeilt sich, seidenbespannte, verblichen gelbe und grüne Lampions anzuzünden und draußen rauscht der Regen in Strömen herunter. Ein paar Mopeds zischen über das feuchte Pflaster und ziehen ihre roten Lichter in Schlieren hinter sich her. Der Boden dampft und die Feuchtigkeit zieht zu uns herein. Die Vietnamesen sind die Einzigen, deren schwarzes, glattes Haar unverändert in Form bleibt. Wir Touristen sehen in Kürze aus, wie Schafe mit nassem Fell, leichter oder stärker gekräuselt, je nach Veranlagung. Sogar mein glattes, blondes Haar, das sonst jede Rundung verweigert, dreht und wellt sich irgendwie nach außen. Das kräftige, graue Haar meines Begleiters kringelt sich am Scheitel und an den Schläfen. Die Feuchtigkeit steht ihm glänzend auf Wangenknochen und Nasenspitze, er lächelt, zeigt auf mein Haar und sagt, wir Weißen geraten bedauernswert aus der Form bei dem Wetter. Wir lachen und bestellen noch ein Bier. Selten, dass es im März schon so runterkommt, meint er, aber hier oben im Norden regnet es relativ oft.

Die Vietnamesen scheinen über das Wetter zu schimpfen. Sie schnattern aufgeregt und schauen unentwegt nach draußen, wo sich schon ein Bach die Straße hinunterstürzt und mit sich gelbe Mangos und rote Litschis führt, grüne Plastiktüten und schillernde Fische. Die meisten Händler haben schnell eine Plane über ihre Waren gezogen und irgendwo Unterschlupf gesucht. Nur eine kleine Fischhändlerin sitzt wie unberührt inmitten ihrer Schüsseln und Bottiche, in denen alle Arten von Aalen und Barschen zappeln. Ihr melancholischer Blick geht nirgendwohin und es scheint, als habe sie sich gegen alle Unbilden der Welt immunisiert. Über ihr fällt wie ein silberner Vorhang der Regen herunter, macht die Konturen weich und lässt diese ganze Szenerie schön erscheinen und unwirklich - wie mit Wasserfarben gemalt.

Fischmaedchen

Und so, als trenne jemand diesen silbernen Vorhang aus Wasser mit dem Hieb eines scharfen Messers in der Mitte durch, hört das Rauschen auch wieder auf, reißen die Tropfen ab. Nur die Mopeds zischen noch durch die Pfützen. Als erster tritt der Wirt vor die Tür, prüft mit der ausgestreckten, flachen Hand, ob es vorbei ist, nickt und wieder setzen sich alle in Bewegung - nach draußen.

Die Luft steht nicht mehr, ein Hauch Frische weht über dem dichten Häusergewimmel der Altstadt. Die Leute wischen die Plastikhöckerchen ab und nehmen wieder Platz. Einige gehen ihrer Wege. Wir sollten auch besser gehen, sagt mein Begleiter. Nicht, dass wir noch ganz nass werden. Und außerdem fahre ich morgen ganz früh aus der Stadt. Ja, bei mir geht es auch um sieben los, sage ich. In die Ha Long Bucht. In diesem schmalen Land scheinen alle dieselben Wege zu haben, sagt er und lächelt vielsagend. Ob er auch in die berühmte Bucht fährt? Ich verkneife mir die Frage, will diesem Moment den Zauber des Unbestimmten nicht nehmen. Wo gehen sie lang? fragt er. Mein Hotel ist gleich da vorne, sage ich und wir laufen schon darauf zu. Vor dem Hotel geben wir uns die Hand. Also, vielleicht bis morgen, sagt er oder bis in ein paar Tagen. Ich schüttele den Kopf über soviel Zuversicht und drücke die Glastür zu meinem Hotel auf.

Samstag, 21. August 2010

Der Geschmack des Sommers

Mit dem Garten kamen eine paar kleine geheime Rituale in mein Leben, die ich jetzt unweigerlich mit Sommer verbinde. Sommer - das bedeutet, hier draußen zu sein, in meiner kleinen Laube, weit weg von allem und doch ganz nah. Allein, aber nicht einsam. Und niemand weiß so ganz genau, was ich hier treibe.

Wenn ich komme, gehe ich zuerst den schmalen Weg zu der kleinen Laube. Die Trauben über der Tür sind schon dick und grün, wie aus Plastik. Ich schließe auf und betrete den vorderen Raum mit dem großen Tisch und dem grünen Lampion aus Hoi An darüber. Dann schließe ich den anderen Raum auf, mit dem kleinen Sofa darin und den vielen Kissen darauf. Sicher, es stehen auch Wasserkästen hier und ein paar Gartenmöbel - aber die zählen dann nicht. In diesem Augenblick zählen nur die Dinge, die mein Refugium ausmachen. Das Sofa, das kleine Schränkchen mit den ganz besonderen CDs, die ich nur hier höre, mein kleines Bücherregal, mit den ganz besonderen Büchern, die ich nur hier lese.

Gartenlaube

Nichts in der Laube war von Anfang an mir. Die Sachen gehörten einer älteren Frau, die ihren Mann begraben hatte und die mir alles da ließ. Erst nach und nach nahm die Laube den Ausdruck meiner Persönlichkeit an. Ich brachte eine Decke mit indischem Muster, seidene Kissen aus Ceylon und sehr schmale Büchlein mit, die sich besonders eignen für einen Tag auf der Wiese. Jetzt ist es ganz mein Häuschen - sagt jeder, der schon einmal hier war.

Als erstes drehe ich draußen das Wasser auf und werfe den Wasserkocher an. Dann gehe ich mit der Schere zu dem großen Verbenienbusch und schneide einen Zweig ab. Dieser frische Geruch nach Zitrone in der Hitze, den fange ich mir in ein Glas. Dann kommt die Espressomaschine. Auch sie wird befüllt. Mit vietnamesischem Kaffee, der eigentümlich süß duftet, wie Schokolade. Die kleine Maschine zischt und die ganze Laube ist mit diesem Duft erfüllt, der süßlich, kräftigen Note des Kaffees, der frischen Note der Verbenie. Einer Blechdose entnehme ich einen sizilianischen Keks und tauche ihn abwechselnd in den Kaffee und in den Tee - während draußen die Hitze brütet und die Nachbarskinder schreiend mit dem Wasserschlauch spielen.

Sonntag, 15. August 2010

Leipziger Allerlei: Streublümchenmuster

Die Schaufenster der Stadt sind voll mit Dingen, die ich von ihr her kenne, seit ich ein kleines Mädchen war. Das Meißner Streublümchenmuster, die kleinen Tänzerinnen mit Röckchen aus Porzellanspitze, rotgoldene Ringe mit drei kleinen Rubinen in der Mitte. Und in diesen Straßen mit den hohen, alten Häusern, den Jugendstilornamenten, scheint sie plötzlich allgegenwärtig. Streubluemchen

Ich stelle mir das vor. Wie sie hier herumlief. Als junges Mädchen, dunkelblond, dunkelblauäugig, mit wachsender Eleganz, schließlich eine junge Frau. Eine selbständige junge Frau, die mit der "Elektrischen" zur Arbeit fuhr. Zur Arbeit in die Nikolaistraße, in die Kürschnerei Fritz Erler, Haus Nummer achtundzwanzig bis zweiunddreißig.

Als ich vom Bahnhof in die Stadt hineinlaufe und zum ersten Mal daran vorbei, ist gerade eine Führung im Gange. Ich erkenne das Haus an der Weltkugel auf dem Dach und den runden, geschwungenen Gauben. Eine Gruppe von etwa zwanzig Leuten steht vor dem schön verzierten Torbogen, mit dem ernsthaften Gesicht einer jungen Frau in Sandstein darüber. Frauenkopf

Die Stadtführerin spricht von einem Beispiel besonders gelungener Altstadtsanierung. Sie sagt das mit einem gewissen Stolz, als habe sie selbst etwas dazu beigetragen und ich finde das irgendwie anmaßend. Schließlich war es meine Großmutter, die Allen zum Trotz daran geglaubt hatte, dass die Mauer fallen würde, die Grenze zwischen den beiden Deutschlands irgendwann Vergangenheit sein würde. Viele hielten sie mit ihrem unerschütterlichen Glauben, ihrem akribischen Sammeln von notwendigen Unterlagen und dem Aufbewahren ihrer Mokkatässchen mit Streublümchenmuster für verschroben. Eines Tages nicht mehr. Eines Tages wollte man diese Papiere einsehen und war froh, dass sie da waren.

Ich warte, bis die Stadtführung zur nächsten Attraktion eilt und blicke in die Fenster im ersten Stock, versuche zu erkennen, was sich jetzt wohl dahinter befinden mag. Es scheinen wieder Büros, die typischen Grünpflanzen, hasenohrengleich, stehen dort hinter Jalusien. Vielleicht saß sie dort links hinter dem Fenster, vor einer schwarzen Triumph und tippte, was der Jungchef ihr diktierte. Den Jungchef hatte sie früh erwähnt. Das war vor dem Krieg, vor dem alles verwüstenden.
Nikolaistrasse

Wie war wohl ihr Arbeitstag? Ob er sich sehr von dem meinigen unterschied? Wohl nicht, will es mir scheinen - außer, dass sie sich diktieren lassen musste, nicht selbst formulieren durfte, was sie schrieb. Was hatte sie wohl an, an solch einem normalen Arbeitstag? Ein Kleid, ein Kostüm? Hatte sie die Haare hochgesteckt oder trug sie sie schon kurz? Ich kenne ihren Blick, kann mich gut an ihn erinnern: ein wenig überrascht mit spitzem Mund, ein Lächeln nur in den Augen, hinter einer Brille, schon damals konnte sie schlecht sehen. Die trug sie natürlich nur im Büro. Sobald sie hinunter auf die Straße ging, kam sie in das Etui aus Krokoleder - ein unverzichtbares Utensil, das auch später noch zu ihr gehörte, wie das Streublümchenmuster.

Ich gehe durch den Torbogen, sehe mir die Metallschilder an, mit den neuen Firmennamen darauf. Viele Anwälte, eine Kommunikationsagentur. Ich könnte hier anfangen, geht es mir durch den Kopf. Im Ladengeschäft unten eine punkige Jeansboutique, mit schwarzem Logo - ein bisschen fehl am Platz. Der Lichthof hinter dem Vorderhaus ist wunderschön, weißblau gefliest, hohe Fenster.

Lichthof

Da müssen früher die Werkstätten gewesen sein, wo die Pelze verarbeitet wurden, zu kostbaren Mänteln, zu kleinen weißen Capes, die man auf dem Weg in die Oper trug, über dem Abendkleid. Wo die Pelze wohl herkamen? Aus Russland, aus Polen? Da schrieb sie vielleicht französische Briefe. Jedenfalls hatte sie den Beruf der Fremdsprachenkorrespondentin erlernt, mit Englisch und Französisch. Ob sie diese Ausbildung schon bei der Firma Erler gemacht hatte? Ich weiß so wenig darüber. Gerne würde ich mit ihr durch diese Stadt gehen und sie all das fragen. Sie würde sich sehr freuen über all die aufgebauten Häuser, die wiederbelebten Cafés, wie das Riquet, das muss hier gleich um die Ecke sein. Ich beschließe, meinen Koffer im Hotel abzustellen und dort hinzugehen.

Riquet

Das Café Riquet wirkt so einen Hauch chinesisch, mit dem Türmchen auf dem Dach, pagodenartig und geschwungen die Giebel. Auch innen sind noch ein paar dieser exotischen Elemente zu finden, in der Holztäfelung mit fremden Vögeln und Äffchen, in der Tapete mit Bambusblattmuster. Ich suche einen Platz in einer Nische, von dem man die Tür gut sehen kann und die Kuchentheke. Einen Platz, den sie selbst gewählt hätte. Bei einer brünetten Bedienung bestelle Kaffee und ein Stück Rhabarberkuchen mit Quark. Ob sie hier ihre Mittagspausen verbracht hat, jedenfalls ab und zu, wenn der Jungchef sie ausführte? Der Jungchef, der ihr bald einen Heiratsantrag gemacht hatte. Wie das wohl war? Eine solche Geschichte in solch geordneten Zeiten? Und heute? Heute könnte das leicht als sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz enden - und dann wäre es das gewesen.

Ich hole mein Notizbuch hervor, damit ich nichts verliere von diesen Eindrücken und Gedanken. Ich stelle mir das vor, wie sie hier saß. Und zwischen einer Mittagspause im Monat Mai, kurz nach ihrem vierundzwanzigsten Geburtstag und heute liegt nur ein wenig Zeit.

Freitag, 13. August 2010

Was auf Bildern fehlt

Er rückte auf seinem Stuhl herum, schob die langen Beine in einen steileren Winkel und sah mich an, nachdenklich, mit einem Blick ganz weit weg oder ganz in sich drin. Was meinen sie? Warum erscheinen ihnen Bilder so anders sind als die Wirklichkeit? Na, ja, irgendwie sehen die Bilder immer so schön aus, auch wenn sie nichts Schönes abbilden. Zum Beispiel, meine Bilder von den Garküchen. Sie sind unheimlich bunt oder lichterfüllt - aber so ist es nicht, nicht nur. Es fehlt der Geruch der Stinkfrüchte oder der ohrenbetäubende Lärm der Mopeds, das harte Tak-Tak der vietnamesischen Sprache. Ja, das stimmt natürlich, sagt der Fremde und nickt. Es ist immer eine gewisse Inszenierung, selbst wenn man scheinbare Schnappschüsse macht. Man spart einen Dreckhaufen aus, einen Kabelwald, eine dicke weiße Touristin, mit einem winzigen, roten Rucksack - und ich stelle auch noch Menschen, die mir irgendwie gefallen, vor einen bestimmten Hintergrund. Aber irgendwie ist es auch eine Wirklichkeit, eine Augenblickswirklichkeit, ein bestimmter Blickwinkel zu einem bestimmten Zeitpunkt, der eigentlich ganz kurz ist - nur durch das Bild machen wir ihn ewig oder jedenfalls so ewig, wie das Bild besteht.

Nachtkueche

Ich fand es schön, wie genau mir der Fremde seine Gedanken mitteilte, wie genau er sie ausdrücken konnte. Die ganze Zeit, während er sprach, hatte er die Augen zwar auf mich, den Blick aber in irgendeine unbestimmte Ferne gerichtet. Er hatte ein schönes, kantiges Gesicht, mit einem recht ausgeprägten Kinn und einer schmalen, aber leicht gebogenen Nase. Während er mit mir sprach, schien er noch etwas ganz Anderes im Kopf zu haben, etwas das zeitlich zurücklag. Und ich? Während ich ihn ansah, ertappte ich mich dabei, wie ich mir zum ersten Mal, seit ich von Peter getrennt war, darüber nachdachte, ob mir ein Mann gefiel.

Und beim Schreiben? Da wird der Geruch riechbar und das Moped hörbar? fragt er fast plötzlich in die Stille unserer Gedanken. Na ja, ich versuche einen Augenblick zu beschreiben, mit allem, was ihn ausmacht - für mich. Er nickt und blickt wieder in die Ferne, mit diesen meergrauen Augen, die mir mittlerweile schön erscheinen, schön und begehrenswert. So sehr, dass ich von mir selbst überrascht bin. Es ist auch nur eine Annäherung, resümiere ich nach dieser weiteren kleinen Pause. Ja, sagt er, es ist eine Beschreibung ihres Empfindens dieses Augenblicks. In einem anderen Augenblick könnten sie anders empfinden.

Freitag, 23. Juli 2010

So anders als die Wirklichkeit

Es ist Abend und ich streife wieder durch die Altstadt. Heute möchte ich mich zum ersten Mal in eine der kleinen Bierbars mit den roten Plastik Hockerchen trauen. Eigentlich stehen die Hockerchen vor den Bars auf dem Bürgersteig, wo sich eben alles abspielt. Im Innenraum der Bars, meist schwarzen Löchern, befinden sich nur die glänzenden Bierfässer. Selbst die Gaskocher, um ein paar Kleinigkeiten zuzubereiten, werden auf dem Bürgersteig betrieben.
Hanoi-Bia-Bar

Die kleinen roten Plastikhocker sind begehrt und ich finde nur noch einen einzigen freien Platz neben einem hochgewachsenen Mann, der seine langen Beine etwas steif zu einem eckigen Yogasitz verschlungen hat. Er schaut gar nicht hoch, sondern nur auf die Fotos in seiner Digitalkamera. Mir ist das im ersten Augenblick nur recht und ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche. Er sieht seine Fotos an und ich schreibe ein paar Eindrücke auf, aber nach einer Weile beschreibe ich ihn und die Erinnerung durchfährt mich wie ein kleiner Blitzschlag, lässt meine Haarwurzeln beben. Er ist der Mann vom ersten Abend. Wieder überlege ich, wo ich ihn schon gesehen habe. Der Platz ist eng bemessen und ich kann gar nicht anders, als seine Fotos mitanzusehen, die sehr bemerkenswert sind. Eine junge Vietnamesin im Businesskostüm vor einem Tempel, ein junger Vietnamese mit Besen am Ausgang des Flughafens - die Gesichter offen und wach, die Augen leuchtend. Ich frage mich, ob er vietnamesische Freunde hat. Irgendwann fängt er meinen Blick auf, ernst, fast wild, mit Augen so zwischen Grau und Blau, wie das Meer an einem stürmischen Tag. Ich zucke zusammen, denn im gleichen Augenblick fällt mir auch ein, wo ich ihn schon gesehen habe. In Frankfurt - auf dem vietnamesischen Konsulat.

Gefallen sie ihnen? fragt er und ich nicke verlegen, denn er musste etwas gelesen haben, von meinem Geschriebenen, sonst hätte er mich wohl nicht auf Deutsch angesprochen, so ganz, ohne zu zögern. Aber er scheint sich gar nichts zu denken bei alldem, sondern erzählt mir, wie die Bilder entstanden sind. Erst war es ein Versehen, sagt er. Ich wollte einfach den ersten Blick auf dieses Land festhalten. Das war am Ausgang des Flughafengebäudes. Da stand dieser junge Mann mit dem Besen und kehrte vor den Mülleimern den Dreck weg. Es war mir peinlich und ihm auch, er hatte sofort die Augen niedergeschlagen. Da sprach ich ihn an, um ihm seine Verlegenheit zu nehmen und fragte ihn, ob ich von ihm ein Foto machen dürfte. Er lächelte mich an und sagte ja. Erst wollte er den Besen zur Seite stellen, aber ich sagte nein, er solle genauso aussehen wie immer. Daraufhin stellte er sich mit dem Besen auf und ich machte das erste Bild. Und dann fragte ich immer mehr Leute.

Es sind sehr schöne Bilder, sagte ich. Die Leute sehen irgendwie stolz aus. Ja, sagte der Mann mit den meergrauen Augen. Was werden sie damit machen? fragte ich ihn. Ich weiß noch nicht. Vielleicht eine kleine Ausstellung - nur für Freunde, bei mir im Haus. Eine schöne Idee, sage ich und lächle zum ersten Mal. Und sie schreiben, sagt er und macht eine Bewegung mit dem Kinn zu meinem Heft hin. Ach, nur ein paar Notizen, sage ich. Bilder sehen immer so anders aus als die Wirklichkeit.

Freitag, 2. Juli 2010

Liebe, Gesundheit und die ganze Welt sehen

Ich wache auf mit dem Gedanken an diesen hochgewachsenen Fremden, der mir abends im Restaurant gegenüber gesessen hatte. Irgendwo hatte ich ihn schon mal gesehen. Oder erinnerte er mich nur an irgend jemanden? Am Fenster bietet sich mir ein ähnliches Bild, wie bei meiner Ankunft: die Luft ist gelb und regenschwer. Als habe die Stadt ihre Faszination nach einem nächtlichen Spuk verloren.

Das kleine Frühstücksbuffet empfängt mich in einem ausgeräuberten Zustand. Die meisten anderen Gäste sind wohl schon in aller Frühe hier durchgeeilt. Hanoi scheint eine Durchgangsstation, auf dem Weg in den grünen Norden, nach Sa Pa oder in die Ha Long Bucht. Ich nehme mir die restlichen zwei Scheiben Toast mit der unvermeidlichen Orangenmarmelade. Über den Tag würde ich sicher irgendwo eine dieser wunderbaren Reisnudelsuppen bekommen.

Es hilft nichts, draußen ist es mit gefühlten fünfzehn Grad eher kühl und meine an den Ellenbogen schon fadenscheinige Jeansjacke muss wieder herhalten. Eigentlich hatte ich gehofft, diesem langen deutschen Winter ein Schnippchen zu schlagen. Eine naive Hoffnung, denn Hanoi ist nicht tropisch, sondern subtropisch und damit eher kühl. Ich laufe also vage Richtung Hoan-Kiem-See. Ein Name, der mich immer amüsiert, weil er so nah an dem urbayerischen Hohenchiemsee ist. Dieser Name hier bedeutet allerdings "See des zurückgegebenen Schwertes" und ich hatte ihn gestern auf meinem Heimweg schon gesehen, ruhig und glatt, wie ein schwarzes Seidentuch.

Holzsteg-der-Aufgehenden-SonneIn der Ferne glimmt bereits unwirklich verschwommen eine rote Holzbrücke durch die dampfige Luft und sagt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ich erreiche eine märchenhafte Szenerie. Die Holzbrücke, ein spielzeugartiger Steg führt zu einem Tempeltor mit leuchtend gelben Drachen und himmelblauen Fischen. Alles trägt sehr poetische Namen. Ich bin über die Brücke der Aufgehenden Sonne gewandelt und befinde mich nun am Jadebergtempel. Ich fühle mich in eine zauberische Welt versetzt. Ein Eindruck der noch durch die Gebetshandlungen der Einheimischen, die große Bündel gelber Räucherstäbchen anzünden, während des Gebetes über ihren Kopf halten, und das Bündel dann in einen riesigen mit Drachen geschmückten Bronzekessel stecken. Von der Decke hängen Räucherspiralen mit gelben Wunschzetteln darin. Einige sind in deutscher Sprache ausgestellt und ich stelle mich unter einen, auf dem steht: Liebe, Gesundheit und die ganze Welt sehen.

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