Kantinen sind ausgestorben, oder? Rückblick in der Mouson Kantine

Am Dienstag Abend saß ich in der "Kantine" des Mouson-Turms. Kantine trifft es irgendwie, denn es ist weder ein Café, noch eine Bar, noch ein richtiges Restaurant - es ist ein Ort, an dem man vor und nach Veranstaltungen sitzt, manchmal auch mit Bühnenarbeitern oder Darbietenden. Ich sitze meist vor etwas dort und stimme mich ein wenig ein auf das Kommende. Das geschieht nicht sehr oft, vielleicht einmal im Jahr, aber immer sind es denkwürdige Gelegenheiten: Vor etwa einem Jahr stimmte ich mich auf ein Seminar mit Alban Nicolas Herbst über literarische Blogs ein. Daraus ist dann dieses hier entstanden und wahrscheinlich noch mehr, nämlich ein Entschluss, mein tägliches Tun selbstbestimmter zu gestalten und mich selbständig zu machen.

Mouson-Kantine

Dieser Entschluss und der Weg aus dem Angestelltendasein in die Selbständigkeit führte mich geradewegs hin zum aktuellen Termin im Mouson Turm - einer Lesung von Wilhelm Genazino aus Anlass der Veranstaltung "Frankfurt liest ein Buch". Die Trilogie "Abschaffel" ist dieses Buch, in den späten siebziger Jahren veröffentlicht. Ein Buch, dass das Innenleben eines Angestellten der damaligen Zeit aberwitzig beleuchtet - und dennoch nicht gestrig ist, weil man die Beobachtungen des Abschaffel auch auf die heutige Zeit übertragen kann, in der die Arbeitswelt noch wesentlich abstrakter und aberwitziger geworden scheint.

Ich selbst war genau in dieser Zeit auf Wilhelm Genazino aufmerksam geworden, weil ich immer auf der Suche nach dem Leben war - in meiner knapp bemessenen Mittagspause. Leben, das bedeutete für mich Bücher, Bücher, in denen ich Menschen fand, die vielleicht so ähnlich fühlten wie ich, aber auch irgendeinem Alltag verhaftet waren.

Meine Mittagspause verbrachte ich draußen auf den Straßen Frankfurts zwischen Weißfrauenstraße, wo ich eine Ausbildung bei der Degussa AG machte, und Hirschgraben, wo ich in einer halben Stunde hinflitzen konnte. Mein Ziel war oft die Buchhandlung Zweitausendeins, weil man dort schon damals völlig ungestört in den Büchern stöbern konnte. Danach ging ich oft ins Café Clemens (heute Karin) oder Jucheim's (heute Dichtung und Wahrheit).

Bei einem dieser Besuche fiel mir das Buch "Die Ausschweifung" in die Hände - und schon der Titel sprach mich an, weil ich mich selbst nach Ausschweifung sehnte und mir meine kleinen Abschweifungen aus dem Arbeitsleben nichtig und kleinlaut erschienen. Ich las die Geschichte von Herrn Fuchs, der in seinem Angestellten-Dasein und in seiner Ehe gefangen war und nur in seiner eigenen Innenwelt eine kleine Freiheit besaß - und war begeistert. Dann könnte ich also auch eine Heldin des Alltags sein?! Um mich herum fand ich diese ganze Welt des Herrn Fuchs: Die Fußgängerüberführung aus Waschbeton, den bedrohlich hässlichen Bundesrechnungshof, ein Landkartengeschäft, das die Welt abstrakt in kleinen Farbfelder abbildete, und deshalb als unerreichbar darstellte.

Im Café Clemens saß ich mit meinem Buch, inmitten orangefarbener Tischdecken und Vorhänge, muffig alles, wie der Geruch der Gulaschsuppe zu vierfünfzig. Und dennoch genoss ich diese kleinen selbstbestimmten Fluchten unglaublich. Das war tausendmal besser als die Kantine, die ansonsten auf mich gewartet hätte. Die Kollegen, die noch keine waren, das bange Ausschauhalten nach einem Tisch, das aufgeregte Warten in der Schlange und schließlich der Abgang mit dem vollen Tablett, der gelingen musste.

Also, diese Art von Kantinen gibt es zum Glück nicht mehr und auch vieles andere aus dieser Zeit nicht mehr und darüber bin ich meistens froh. Dennoch erinnere ich mich gern zurück und manchmal mit leichter Wehmut. Denn damals war es wohl, dass ich angefangen habe zu schreiben. Die Geschichte des Abschaffel werde ich nach der Lesung jedenfalls mit großem Vergnügen lesen und vielleicht den einen oder anderen Spaziergang machen von der Weißfrauenstraße in den Hirschgraben. Die Atmosphäre ist ohne Bücher unwiderbringlich, schließlich gab es damals noch kein IPhone.

Mouson-Interieur

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